Walter Scott: Ivanhoe; Verlag Rütten & Loening, Berlin (DDR),
1972 (dritte Auflage); Bestell-Nr. 6179085; 630 Seiten (aus dem
Englischen übersetzt von Christine Hoeppener mit einem Nachwort von
Klaus Udo Szandra und mit Anmerkungen); (im Internet gibt es viele
Angebote)
Wie sich die Zeiten ändern. Um 1800 galt die Prosaliteratur noch als
zweitklassig, ja sogar als unseriös – zumindest im englischen
Sprachraum. Die Poesie galt als Ausdruck gehobener Kultur. Wenn heute
ein Dichter – ich meine einen eingleisig fahrenden Lyriker – für
seine Werke einen bekannten Literaturpreis bekommt, ist das fast
schon eine Sensation. Die Prosa ist das dominierende Genre.
Auf der Insel begann die Prosa ihren Siegeszug im 19. Jahrhundert.
Einer, der ihr zum Durchbruch verhalf, war Walter Scott (1771
– 1832). Seine historischen Romane fanden und finden bis heute ein
breites Publikum nicht nur unter den Lesern, sondern auch unter den
Filmliebhabern. Einige sehen in Walter Scott sogar den
Begründer dieser Literaturgattung in der englischen Sprache. Der
Schotte schrieb bis zu seinem 56. Lebensjahr, also fast sein ganzes
Leben lang, unter Pseudonym.
Auch Ivenhoe, sein bekanntester
Roman, stammt aus der Feder des The Wizard of the North, in
dem schon damals viele Kenner der Szene Walter Scott vermuteten. Die
Handlung dieses umfassenden Romans ist im 12. Jahrhundert in England
angesiedelt. Damit verließ Scott zum ersten Mal thematisch
seine nähere Heimat Schottland – abgesehen von seinen
Übersetzungen aus dem Deutschen (Gottfried August Bürger,
Johann Wolfgang Goethe u. a.) - und begab sich in die
Geschichte Englands.
Ivenhoe ist 1819 in Edinburgh
erschienen. Bei Wikipedia fand ich 17 Übersetzungen ins Deutsche.
Die erste stammt von Karl Ludwig Methusalem Müller und ist
bereits 1821 in Leipzig erschienen. Für die letzte zeichnet Sonja
Ehrnstorfer. Sie wurde 1993 in Wien aufgelegt. Die Ausgabe, die
ich jetzt gelesen habe, ist eine Übersetzung von Christine
Hoeppener, erschienen in der bekannten DDR-Reihe BDW (Bibliothek
der Weltliteratur) als dritte Auflage im Verlag Rütten &
Loening, Berlin 1972, erste Auflage 1968. (In der oben erwähnten
Wikipedia-Liste gibt es auch eine
Hoeppener-Übersetzung aus dem Jahre 1957.) Mein Exemplar trägt auf
der letzten Seite den Stempel Anticariat Timișoara,
Lei 30.
Der Stoff wurde öfter verfilmt, 1952 mit drei
Oscar-Nominierungen, und diente auch als Vorlage für zwei
Fernsehserien, 1958 mit Roger Moore in der Titelrolle.
Ich hatte mir dieses Mal Kleingedrucktes im
wahrsten Sinne des Wortes vorgenommen. Und es hat sich gelohnt, auch
wenn ich manchmal zu später Abend- oder früher Nachtstunde zur
Leselupe greifen musste. Unter der Lupe tauchte eine zeitlich und
damals auch geografisch ferne Welt auf, die von ritterlichen
Tugenden, aber auch von grenzenlosem Machtmissbrauch im dunklen
Mittelalter geprägt war. Die Normannen beherrschten England. Die
Angelsachsen hatten im eigenen Land nichts zu sagen. Walter Scott
schickt dann auch nicht die Repräsentanten des angelsächsischen
Adels in den Kampf um die eigene Würde und Freiheit der Heimat wie
etwa Cedric von Rotherwood, sondern lässt vordergründig „Gurth,
Sohn Beonwulphs , […] durch Geburt Leibeigener Cedrics von
Rotherwood“ und seinen Kumpel „Wamba, Sohn des Wittless, […]
Leibeigener Cedrics von Rotherwood“ handeln, mit viel
Bauernschläue, wie das einem Vertreter des Volkes auch gut zu
Gesicht steht.
Die große Politik ist trotz ausgiebiger
Schilderung eines Ritterturniers gar nicht vorhanden. Sie steckt zwar
aus heutiger Sicht den geschichtlichen Rahmen ab, ihre Protagonisten
verbergen sich aber hinter ihren Rüstungen und streifen zum Teil
sogar als heimgekehrte Kreuzfahrer inkognito durch die Wälder
Englands, um so die romantaugliche Symbiose zwischen fremdbestimmter
Herrscherklasse und Freibeutern entstehen zu lassen.
Dass dann ein Wilfred von Ivenhoe, verstoßener
Sohn Cedrics, und der Yeomen (das ist ein Gemeinfreier unterhalb
des Ritterstandes) Locksley gemeinsame Sache machen, ist der
angelsächsischen Volkszugehörigkeit zu verdanken, wenn dann aber
noch ein Schwarzer Ritter, der bis spät in der Handlung des Romans
unerkannt bleibt, in das Geschehen eingreift, dann wird die
Komplexität des von Scott geschaffenen Historieneposʼ
greifbar. Denn man muss wissen, dass die herrschenden Normannen sich
keineswegs grün untereinander waren. Englands König Richard I.,
auch Richard Löwenherz, Richard Plantagenet oder Richard von England
genannt, befand sich auf Kreuzzugsmission im Orient (oder auf dem
Heimweg von dort) und sein Bruder Johann intrigierte eifrig in den
heimischen Gefilden gegen seinen abwesenden Bruder. Damit wäre dann
auch der politische Rahmen gesteckt und die Handlungsebenen klarer
erkennbar: Normannen gegen Normannen (Richard gegen Johann) und
Angelsachsen gegen Normannen.
In dieser Gemengelage ziehen die
Einzelschicksale ihre unsichtbaren Fäden, bis ein knisterndes
Geflecht aus Liebesbeziehungen (erfüllten und unerfüllten),
Burgbelagerungen, ja sogar aus einer Auferstehung vom
(vermeintlichen) Tode und vielem mehr entsteht. In diesem Geflecht
spielt der Jude Isaac von York mit seinem Reichtum und seiner
heilkundigen und bezaubernden Tochter Rebecca eine gewichtige Rolle.
Vor allem wirft Walter Scott anhand dieser zwei Personen ein
grelles Licht auf den immerwährenden Judenhass seit Anbeginn der
Geschichte. Während die Antipathien zwischen den gegnerischen Lagern
entlang klarer Linien verlaufen, verschmilzt deren Parallelität zu
einem einzigen Pfeil. Und der fliegt immer, ganz gleich von welcher
Sehne kommend, auf den bemitleidenswerten Isaac. Ich habe mir das
eine und andere Mal beim Lesen gesagt, das könnte auch von einem
Nazipropagandisten geschrieben sein.
Das führt wiederum dazu, dass man als
empathisch beteiligter Leser Partei ergreift und sich (wie ich)
schnell wünscht, mögen dieses jüdische Mädchen und der
abendländische Prinz doch zusammenfinden. Rebecca und Ivenhoe? Wer
den Roman bis zur letzten Seite liest, wird es erfahren. Und er wird
noch die eine und andere Begegnung mit Personen aus der englischen
Sagenwelt haben, denn es heißt im vierzigsten Kapitel öfter Mal,
ich bin der und der.
Wenn sich dann alle Visiere gehoben haben und
die Identitäten (real oder fiktional) geklärt sind, wechselt Walter
Scott plötzlich den Ton. Der Romacier scheint dem Historiker
zumindest für das letzte Kapitel, dem vierundvierzigsten, den
Vortritt gewährt zu haben: „Doch erst unter der Regierung Eduards III. wurde die gemischte Sprache, die man jetzt die englische nannte,
am Hofe von London gesprochen, und damit schienen nun alle
feindseligen Unterschiede zwischen Normannen und Angelsachsen
verschwunden zu sein.
Hoffentlich tauchen sie nach dem Brexit nicht
wieder auf. Jedes Kapitel dieses Buches steht unter einem Motto. Das
letzte lautet: „So! Hier endet es gleich einem Ammenmärchen.“
(John Webster , um 1579 bis 1634). Natürlich ist mir
klar, dass nach dem letzten Satz, der ein Gedicht ist, die Fiktion
beendet ist: „Sein Schicksal endete an fremdem Strand, / Vor
winzʼger Festung –
durch geringe Hand! / Ein Name blieb, vor dem erblaßtʼ
die Welt, / Moral zu weisen
durch der Sage Held.“
Es ist auf
jeden Fall lohnend, nach der Moral der Heldensage Ivenhoe
zu suchen. Wer das tut, verschwendet keine Zeit.
Anton
Potche
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