Montag, 10. August 2020

Der Anfang vom Ende oder Die hochwertige Demokratie

Wilfried Loth: Helsinki, 1. August 1975 - Entspannung und Abrüstung; Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, 1998; ISBN 3-423-30614-9; 317 Seiten (mit Anmerkungen, Abkürzungen, Literatur, Register); bei Amazon erhältlich zu Preisen von 1,18 € bis 46,80 € (Stand: 10.08.2020)

Bücher, die sich mit Zeitgeschichte befassen, können auf Leser einen besonderen Reiz ausüben. Man kann sich als interessierter Zeitgenosse schnell in die behandelten Zeiträume versetzen, besonders wenn man in ihnen oder in einem Teil von ihnen bewusst gelebt hat. Da können Erinnerungen schnell mit frischem Lesematerial interessante Kontraste oder Übereinstimmungen mit dem Autor generieren. Wie habe ich das damals empfunden? Das kann eine interessante Frage über den gesamten Lesezeitraum sein und eine Spannung erzeugen, die belletristischen Prosawerken durchaus ebenbürtig sein kann.

Wilfried Loth (*1948), ein Historiker mit zahlreichen Büchern zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hat 1998 ein Werk vorgelegt, in dessen Mitte die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in die Geschichte als KSZE eingegangen, steht. Man schrieb den 1. August 1975 und es war „nachmittags kurz nach 17 Uhr Ortszeit“, als von „35 Staats- und Regierungschefs aus Europa, den USA und Kanada in der Finlandia-Halle im Zentrum von Helsinki“ die Schlussakte dieser Konferenz unterzeichnet wurde. Obwohl dieses Dokument „völkerrechtlich nicht bindend war und auch keine Institution geschaffen wurde, die die Einhaltung der Vereinbarung überwachen sollte“, ist mir kein politischer Akt bekannt, der eine größere Auswirkung auf die Dissidentenbewegungen im unter sowjetischem Einfluss stehenden Ostblock hatte. Immer wieder haben sich Gegner der kommunistischen Regime auf dieses oft nur als „Schlussakte von Helsinki“ apostrophierte Dokument bezogen. Wenn Wilfried Loth in seiner Bilanz am Ende dieser Veröffentlichung schreibt, dass Gorbatschow in seiner Politik der „Entspannung und Abrüstung“ nicht unbedingt „westlichem Druck“, sondern „eigener Einsicht" folgte, dann gibt er das Gespür vieler Zeitgenossen, besonders im Westen, wieder. Die Wahrnehmung der Menschen im Osten kam dann schon eher dem speziell auf ihren Alltag ausgerichteten Wunschdenken nahe. Der Historiker formuliert etwas zurückhaltend, wo der ein oder andere Leser vielleicht ganz konkrete Anhaltspunkte in seiner in Osteuropa erlebten Vergangenheit findet. So, wenn es zum Beispiel heißt: „Der Westen konnte diese Einsichten nicht erzwingen; insofern ist sein Anteil an der Perestroika und dem daraus resultierenden Sieg der westlichen Prinzipien durchaus begrenzt. Er konnte sie allerdings fördern: indem er erstens über die ideologischen und realen Sperren hinweg soviel wie möglich von der Realität des westlichen Lebens übermittelte ...“ Natürlich dachte ich hier sofort an Radio Freies Europa (Radio Europa Liberă).

Dieser Sender war für viele Menschen im kommunistischen Block der Referenzpunkt ihres politisch so einseitigen und eintönigen Alltags schlechthin. Und die KSZE-Schlussakte waren ein nie vergessener Programmpunkt – mal mehr und mal weniger präsent – dieses Radiosenders aus München. Oft aber standen sie im Mittelpunkt. Wie auch der 1. August 1975 ein Mittelpunkt für die Überwindung des eisernen Vorhangs war. Auf jeden Fall war er der Anfang vom Ende dieses mit Stacheldraht und Maschinengewehren bestückten Grenzwalls. „Im Januar 1954 hatte der damalige sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow zum ersten Mal eine Europäische Sicherheitskonferenz vorgeschlagen“, heißt es gleich zum Auftakt in diesem Buch. 21 Jahre später war es dann so weit. Die Unterzeichner der Schlussakte von Helsinki „versprachen, die Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit zu achten, und sie erklärten die Achtung dieser Rechte zur Voraussetzung für die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen den Staaten.“ Auch für jeden freiheitsliebenden Menschen ganz normale Sachverhalte wurden in Paragrafen gegossen, weil sie eben nicht für jeden und überall selbstverständlich waren: „Regeln zur Familienzusammenführung und zum Heiraten über die Grenzen hinweg“.

Weitere 15 Jahre später waren die Deutschen wieder ein Volk. Auch wenn 1975 nicht genau die Mitte der Zeitspanne 1954 – 1990 ist, so kann man den 1. August 1975 doch als gefühlten Mittel- und vor allem Ausgangspunkt eines Entspannungs- und Abrüstungsprozesses betrachten. Der Weg bis zu diesem Tag war ebenso schwierig und spannend wie der Weg ab diesem Tag bis zur Vereinigung der zwei deutschen Staaten.

Alles hängt mit allem zusammen, nicht nur oder gerade auch in der Politik. In diesem Sinne hat Wilfried Loth hier um seinen thematischen Mittelpunkt ein zeitgeschichtliches Gemälde der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen, das als Kalter Krieg und Untergang des Kommunismus in Europa Eingang auch in zukünftige Geschichtsbücher finden wird.

An Politik und Geschichte interessierte Leser werden schon in den Überschriften der acht Kapitel und zahlreichen Unterkapitel bekannten Namen und zu ihrer Zeit die Öffentlichkeit elektrisierenden Ereignissen begegnen: Stalins Notenoffensive, Berija und Churchill im Tauwetter, Entspannung im Kalten Krieg, Das Berlin-Ultimatum, Der Weg zum 13. August, Das Kuba-Abenteuer, Von Chruschtschow zu Breschnew, De Gaulle und die deutsche Frage, Brandts Weg nach Moskau, Von Ford zu Carter, Deutscher Dialog und Polen-Krise, Gorbatschows Offensive u.s.w. Der Weg in die Demokratie war für Osteuropa schwierig, aber letztendlich erfolgreich, wenn auch von verschiedenen Warten aus betrachtet durchaus graduell unterschiedlich, wie Rumäniens Delegationschef es am 1. August 1975 so plastisch formulierte: „Die Demokratie, die wir in Rumänien realisieren, ist viel hochwertiger als die Demokratie, von der einige Sprecher gesprochen haben.“

Anton Potche

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