Bücher,
die sich mit Zeitgeschichte befassen, können auf Leser einen
besonderen Reiz ausüben. Man kann sich als interessierter
Zeitgenosse schnell in die behandelten Zeiträume versetzen,
besonders wenn man in ihnen oder in einem Teil von ihnen bewusst
gelebt hat. Da können Erinnerungen schnell mit frischem Lesematerial
interessante Kontraste oder Übereinstimmungen mit dem Autor
generieren. Wie habe ich das damals empfunden? Das kann eine
interessante Frage über den gesamten Lesezeitraum sein und eine
Spannung erzeugen, die belletristischen Prosawerken durchaus
ebenbürtig sein kann.
Wilfried
Loth (*1948), ein Historiker mit zahlreichen Büchern zur
Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hat 1998 ein Werk vorgelegt,
in dessen Mitte die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa, in die Geschichte als KSZE eingegangen, steht. Man schrieb
den 1. August 1975 und es war „nachmittags kurz nach 17 Uhr
Ortszeit“, als von „35 Staats- und Regierungschefs aus Europa,
den USA und Kanada in der Finlandia-Halle im Zentrum von Helsinki“
die Schlussakte dieser Konferenz unterzeichnet wurde. Obwohl dieses
Dokument „völkerrechtlich nicht bindend war und auch keine
Institution geschaffen wurde, die die Einhaltung der Vereinbarung
überwachen sollte“, ist mir kein politischer Akt bekannt, der eine
größere Auswirkung auf die Dissidentenbewegungen im unter
sowjetischem Einfluss stehenden Ostblock hatte. Immer wieder haben
sich Gegner der kommunistischen Regime auf dieses oft nur als
„Schlussakte von Helsinki“ apostrophierte Dokument bezogen. Wenn
Wilfried Loth in seiner Bilanz am Ende dieser Veröffentlichung
schreibt, dass Gorbatschow in seiner Politik der „Entspannung
und Abrüstung“ nicht unbedingt „westlichem Druck“, sondern
„eigener Einsicht" folgte, dann gibt er das Gespür vieler
Zeitgenossen, besonders im Westen, wieder. Die Wahrnehmung der
Menschen im Osten kam dann schon eher dem speziell auf ihren Alltag
ausgerichteten Wunschdenken nahe. Der Historiker formuliert etwas
zurückhaltend, wo der ein oder andere Leser vielleicht ganz konkrete
Anhaltspunkte in seiner in Osteuropa erlebten Vergangenheit findet.
So, wenn es zum Beispiel heißt: „Der Westen konnte diese
Einsichten nicht erzwingen; insofern ist sein Anteil an der
Perestroika und dem daraus resultierenden Sieg der westlichen
Prinzipien durchaus begrenzt. Er konnte sie allerdings fördern:
indem er erstens über die ideologischen und realen Sperren hinweg
soviel wie möglich von der Realität des westlichen Lebens
übermittelte ...“ Natürlich dachte ich hier sofort an Radio
Freies Europa (Radio Europa Liberă).
Dieser
Sender war für viele Menschen im kommunistischen Block der
Referenzpunkt ihres politisch so einseitigen und eintönigen Alltags
schlechthin. Und die KSZE-Schlussakte waren ein nie vergessener
Programmpunkt – mal mehr und mal weniger präsent – dieses
Radiosenders aus München. Oft aber standen sie im Mittelpunkt. Wie
auch der 1. August 1975 ein Mittelpunkt für die Überwindung des
eisernen Vorhangs war. Auf jeden Fall war er der Anfang vom Ende
dieses mit Stacheldraht und Maschinengewehren bestückten Grenzwalls.
„Im Januar 1954 hatte der damalige sowjetische Außenminister
Wjatscheslaw Molotow zum ersten Mal eine Europäische
Sicherheitskonferenz vorgeschlagen“, heißt es gleich zum Auftakt
in diesem Buch. 21 Jahre später war es dann so weit. Die
Unterzeichner der Schlussakte von Helsinki „versprachen, die
Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich der Gedanken-,
Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit zu achten, und sie
erklärten die Achtung dieser Rechte zur Voraussetzung für die
Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit
zwischen den Staaten.“ Auch für jeden freiheitsliebenden Menschen
ganz normale Sachverhalte wurden in Paragrafen gegossen, weil sie
eben nicht für jeden und überall selbstverständlich waren: „Regeln
zur Familienzusammenführung und zum Heiraten über die Grenzen
hinweg“.
Weitere
15 Jahre später waren die Deutschen wieder ein Volk. Auch wenn 1975
nicht genau die Mitte der Zeitspanne 1954 – 1990 ist, so kann man
den 1. August 1975 doch als gefühlten Mittel- und vor allem
Ausgangspunkt eines Entspannungs- und Abrüstungsprozesses
betrachten. Der Weg bis zu diesem Tag war ebenso schwierig und
spannend wie der Weg ab diesem Tag bis zur Vereinigung der zwei
deutschen Staaten.
Alles
hängt mit allem zusammen, nicht nur oder gerade auch in der Politik.
In diesem Sinne hat Wilfried Loth hier um seinen thematischen
Mittelpunkt ein zeitgeschichtliches Gemälde der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts geschaffen, das als Kalter Krieg und Untergang des
Kommunismus in Europa Eingang auch in zukünftige Geschichtsbücher
finden wird.
An
Politik und Geschichte interessierte Leser werden schon in den
Überschriften der acht Kapitel und zahlreichen Unterkapitel
bekannten Namen und zu ihrer Zeit die Öffentlichkeit
elektrisierenden Ereignissen begegnen: Stalins Notenoffensive,
Berija und Churchill im Tauwetter, Entspannung
im Kalten Krieg, Das Berlin-Ultimatum, Der Weg
zum 13. August, Das Kuba-Abenteuer, Von Chruschtschow
zu Breschnew, De Gaulle und die deutsche Frage,
Brandts Weg nach Moskau, Von Ford zu Carter,
Deutscher Dialog und Polen-Krise, Gorbatschows Offensive
u.s.w. Der Weg in die Demokratie war für Osteuropa schwierig, aber
letztendlich erfolgreich, wenn auch von verschiedenen Warten aus
betrachtet durchaus graduell unterschiedlich, wie Rumäniens
Delegationschef es am 1. August 1975 so plastisch formulierte: „Die
Demokratie, die wir in Rumänien realisieren, ist viel hochwertiger
als die Demokratie, von der einige Sprecher gesprochen haben.“
Anton
Potche
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