Als der Suhrkamp Verlag im Jahre 1990 seinen 40. Geburtstag feierte, brachte er vier Sammelbände jeweils für die fünfziger, die sechziger, die siebziger und achtziger Jahre heraus. Die zeitgenössischen Autoren (oder nur einige?), die ihre literarischen Arbeiten Suhrkamp anvertrauten, sind mit je einem kurzen Text oder einigen Gedichten in diesen Sammelbänden vertreten.
Zeitgenossenschaft ist von Kurzlebigkeit geprägt, sowohl was die Präsenz vieler Schriftsteller in den Bücherregalen als auch ihre Rezeption beim Lesepublikum betrifft. Wer spricht heute noch von einem Reinhold Batberger, Silvio Blatter, Hans Christoph Buch, Jürg Federspiel und vielen anderen der hier versammelten 62 Literatinnen und Literaten.
Ausnahmen, die diese Regel bestätigen, sind wiederum diejenigen, deren Namen auch heute, knapp 30 Jahre später, noch im Gedächtnis einiger Leser vorhanden sind – wenn auch oft nur vage und nicht unbedingt mit einem Werk assoziiert. Mario Vargas Llosa, Cees Nooteboom, Adolf Muschg oder Friedericke Mayröcker können stellvertretend für die noch nicht Vergessenen aus dieser Anthologie genannt werden. Was eine solche Blumenlese dem Leser dann inhaltlich bietet, ist äußerst breit gefächert und kann von Lesegenuss bis zu Irritationen und sogar scharfer Ablehnung führen.
Der Einstieg in diese so unterschiedlichen Literaturstücke mutet klassisch an: Verse in braven Reimen von Thomas Brasch (1945 – 2001). Auch inhaltlich ist das eine angenehme Lektüre: „Nacht oder Tag oder jetzt / Will ich bei dir liegen / Vom schlimmsten Frieden gehetzt / Zwischen zwei Kriegen“. (Schlaflied für K.)
Man stößt dann aber auch auf Texte, die von Belanglosigkeit nur so strotzen. Julio Cortázar (1914 – 1984) hat seine Suche nach Maga in den Straßen von Paris ziemlich langweilig gestaltet. Zum Glück finden nur kurze Texte Eingang in eine Anthologie.
Da kann man sogar einem Essay über Bücherwelt und Weltbuch des Philosophen Hans Blumenberg (1920 - 1996) mehr abgewinnen. Überhaupt wenn er schlichte Tatsachen so schön philosophisch formuliert wie etwa: „Es gibt so etwas wie die Arroganz der Bücher durch ihre bloße Quantität, die schon nach einer gewissen Zeit schreibender Kultur den überwältigenden Eindruck erzeugt, hier müsse alles stehen und es sei sinnlos, in der Spanne des ohnehin allzu kurzen Lebens noch einmal hinzusehen und wahrzunehmen, was einmal zur Kenntnis genommen und gebracht worden war.“ Wie wahr! Auch ich werde es nicht schaffen, meine in den Jahren herbeigeschafften Bücher in diesem Leben zu lesen. Und an ein solches nach dem Tode glaube ich nicht. Eigentlich schade – aber unvermeidbar.
Bodo Kirchhoff (*1948) gehört zu den bekannt gebliebenen Achtzigern. Und er schreibt noch immer. Ob dabei auch solche Texte wie der hier veröffentlichte über die Unnatürlichkeit der Lust sind? Sex wohin man schaut. Auch Perversion.
Auch geschichtliche Texte entstanden in den Achtzigern. Man liest hier mit viel Erkenntnisgewinn ein Politisches Idyll in Straßburg von Hans Mayer (1907 – 2001). Wie sich Vorgänge in der Geschichte wiederholen. Ich musste an die Madjarisierungsbestrebungen der Ungarn im Banat und den Schnurrbart meines Urgroßvaters denken, als ich in diesem Essay las: „Die französische Administration befand sich erst seit knapp fünfzehn Jahren in einem Land, das fast ein halbes Jahrhundert lang, zwischen 1871 und dem November 1918, ein Reichsland Elsaß-Lothringen gewesen war. Wer im Jahre 1919, wie jener Studienrat am Kölner Schiller-Gymnasium, für Deutschland optiert hatte, mußte auswandern. Wer hingegen, aus welchen Gründen immer, im Lande und bei den Franzosen bleiben wollte, wurde nun einer brüsken Umerziehung unterworfen.“
Man wird in einer Anthologie oft mit Überraschungen konfrontiert. Diese hier macht keine Ausnahme. Marianne Fritz (1848 – 2007), eine Österreicherin, bedient sich in ihrer Erzählung Unter ihrem Kittel, drei Beutel einer diffusen Sprache. Vielleicht etwas für Linguisten.
Der Soziologe Ulrich Beck (1944 – 2015) kümmert sich in seinem Essay Risikogesellschaft um die atomare Zerstörung und die Ohnmacht der Zivilisation mit all ihren Regeln, Gesetzen, Regelwidrigkeiten, Gesetzesverstößen und, und, und …
Der wohl stärkste Text (für mich) in diesem Buch ist ein Theaterfragment von Franz Xaver Kroetz (*1946): Heimat in der Kirche. Leben auf dem Land. Adieu Idylle. Da stehen dir beim Lesen die Haare zu Berge.
Es gibt auch ganz verrückte Sachen, die wieder mal unterstreichen, dass es in der sogenannten Literatur nichts gibt, was es nicht gibt. So macht Andreas Neumeister (*1959) sich in seinem Text Gnafna die Milchfrau Gedanken über das Schicksal seiner Fäkalien. Das stinkt doch zum Himmel. Siegfried Unseld (1924 – 2002) muss ihn aber genossen haben – den Geruch. Ich habe den Text immerhin auch bis zum Ende gelesen.
Was mir bei Abschied von Menzenmang Punch nicht gelungen ist. Hermann Burger (1942 -1989) hat diese Sätze zu Papier gebracht und in mir eine Reaktion ausgelöst, die ich eigentlich bisher so gar nicht kannte, nämlich einen Text, wie erbärmlich auch immer, nicht bis zum Ende zu lesen.
Doch, das ist meiner Wenigkeit in dieser Anthologie sogar ein zweites Mal passiert. Und zwar bei dem viel gefeierten und ebenso umstrittenen Peter Handke (*1942). Also wirklich, es gibt in der Literatur anscheinend immer eine Steigerung für sinnloses Gekritzel. Dieser Text von P. H. ist ein leuchtendes Beispiel dafür: Von der letzten Müdigkeit. Ich wurde beim Lesen so müde , dass ich das Ende nicht geschafft habe. Nur auf das letzte Wort fiel beim Weiterblättern noch mein Blick: „Müdigkeit“.
Bevor die mich jetzt wieder übermannt, will ich noch kurz anmerken, warum ich mir dieses Buch überhaupt gekauft habe. Es gibt in ihm nämlich auch einen rumänischen Achtziger: Mircea Dinescu (*1950). Fünf Gedichte von ihm sind in der Übersetzung von Werner Söllner (*1951) zu lesen: künstlerdomizil, exil im pfefferkorn, die verträumte guillotine, absurde schachpartie und der zeichendeuter. Schön!
Anton Potche
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