Und wo sind eigentlich all diejenigen geblieben, frage ich mich, die nicht besessen sind von der Gegenwart und von der Zukunft, wie so viele momentan, sondern die sich auch für die Vergangenheit und für Biografien, also für die Frage danach, wer wir aufgrund von unserer Vergangenheit sind, interessieren?
(Zelda Biller, geb. 1997 )
Ich gestehe, obige Zeilen in DIE LITERARISCHE WELT (19. Dez. 2020) gefunden und hier als Motto eingesetzt zu haben, nachdem ich den folgenden Text schon zu schreiben begonnen hatte. Was eigentlich mein Anliegen war, passt gut als Antwort auf diesen Leitgedanken von Zelda Biller.
Das vergangene Jahr hatte es in sich. Es war ein besonderes Jahr. Das haben wir nun wahrlich oft genug gehört. Und vor allem, es ist ja nicht vorbei. Das Jahr als Zeiteinheit schon, aber nicht das Ungemach, das uns in ihm beschert wurde, und zwar von einem winzig kleinen, unsichtbaren Mistvieh, das die Wissenschaftler SARS-CoV-2 getauft haben und das bei uns Menschen die Krankheit COVID-19 auslöst. In Ermangelung eines effizienten Abwehrmittels blieb unseren Politikern nichts anderes übrig, als das öffentliche Leben in den Keller zu fahren. Dort schmachtet es heute noch nach dem Tageslicht … und denkt sich allerlei Auswege aus seiner misslichen Lage aus. Und siehe da, der Mensch wurde in allen Bereichen seiner Existenz von einer neuen Kreativwelle erfasst.
Es gibt dabei sogar Gewinner. Unter anderem auch Erkenntnisgewinner. Die Beispiele dafür sind unzählig, und sie werden täglich mehr. Ich greife hier mal eins aus dem Vereinsleben auf, genauer aus der Kulturtätigkeit der Landsmannschaft der Banater Schwaben. Ein Kreisverband dieses Vereins, nämlich der aus Baden-Württemberg, organisiert seit nunmehr 56 (sechsundfünfzig) Jahren Kulturtage. Dabei ging es immer um die weitere und nähere Vergangenheit dieser Volksgruppe aus dem Banat und deren Auswirkungen auf die Gegenwart, was ja aus kulturellen Gesichtspunkten durchaus auch möglich ist. Das grobe Gerüst dieser Veranstaltungen blieb über Jahre das gleiche: Vorträge von Referenten, Diskussionen und ein musikalischer Teil. Also etwas zum Zuhören, Lernen und Gespräche führen, aber auch Zusammenkunft mit Gleichgesinnten - bei Volksgruppen ganz wichtig.
Im vorigen Jahr war dem nicht so. Aber „Vorträge von Referenten, Diskussionen und ein musikalischer Teil“ hieß noch lange nicht: keine Vorträge von Referenten, keine Diskussionen und kein musikalischer Teil. Alles war wie gehabt, Zuhören, Lernen und Gespräche führen, aber auch Zusammenkunft mit Gleichgesinnten war möglich, nur eben virtuell, also über PC und andere Kommunikationsgeräte. Und bei etwas gutem Willen kann man sogar Vorteile in dieser Art von Kulturtagen finden, sind sie doch manchmal noch Monate später (oder sogar Jahre) abrufbar. Der hier erwähnte Landsmannschaftsverband hat die Beiträge der Organisatoren, Referenten und Musiker in Wort & Ton auf seiner Homepage veröffentlicht. Dazu gibt es noch ein Angebot auf YouTube von Brunhilde Forro, die eigentlich für diese Video-Serie verantwortlich zeichnet.
Das erste Video zeigt uns Richard S. Jäger, Vorsitzender des Landesverbandes Baden-Württemberg der Landsmannschaft der Banater Schwaben. Der Inhaber dieser Funktion mit dem sperrigen Namen führt in einer etwas zu lange geratenen Begrüßung in die Veranstaltung ein.
Halrun Reinholz ist es vorbehalten, als Moderatorin die Thematik zu erläutern. Es soll in den folgenden Referaten um das Thema der Auswanderung der Deutschen aus dem Banat gehen. „Uf Deitschland gehn“, hieß das bei den Banater Schwaben. Der Ausdruck war wortwörtlich „in aller Munde“. Die Moderatorin stellt die Themenschwerpunkte der einzelnen Referate kurz vor, bevor es im dritten Video ans Eingemachte geht.
Der in Hatzfeld geborene, pensionierte Lehrer Hans Vastag stellt sein Impulsreferat unter das Motto Grenze und Über die Grenze. „In einem Impulsreferat legt der Referent in höchstens zwanzig Minuten kurz und prägnant die Kerndaten und absolut wichtigsten Fakten zu einem bestimmten Themenkomplex, einer Sachlage dar und stellt die sich daraus ergebenden Thesen vor, um relativ schnell zu einer fruchtbaren, möglichst kontroversen Diskussion zu gelangen“, habe ich bei Wikipedia gelesen. An diese Definition hat der Referent sich zumindest zeitnah gehalten – 24,43 Minuten. Zum Diskutieren gab es keine Gelegenheit und die doch sehr theorielastige „biographisch-essayistische Annäherung“ (Vastag) ist eigentlich so präzise verfasst, dass es auch jetzt im Nachhinein gar nicht so einfach ist, kontrovers zu diesem Thema zu diskutieren. Grenzen sind nun mal abscheuliche Gebilde.
Ernst Meinhardts Beitrag ist mit dem Titel überschrieben Schmiergeld für die Ausreise – Für viele noch immer ein Tabuthema. Der Journalist befasst sich seit Jahren mit diesem Thema und begründet sein Engagement zur Aufklärung eines dunklen Kapitels in der neueren Geschichte der Banater Schwaben gleich zu Beginn seines Referats, gab es doch durch diese illegalen Schmiergeldzahlungen Streitereien bis in dahin intakte Familien- und Verwandtschaftsstrukturen. Originalton Meinhardt: „Solange unsere Landsleute hartnäckig schweigen, solange werden wir noch nicht einmal ein ungefähres Bild vom Ausmaß der Schmiergeldzahlungen bekommen.“ Was er uns erzählt in seinem Referat (nur Ton untermalt mit Bildern), kommt einer Analyse des Verschweigens in diesem speziellen Fall, nämlich der Auswanderung der Banater Schwaben, gleich. Und das sind nach seiner Recherche die „Gründe für das Schweigen“: Dankbarkeit, schlechtes Gewissen, Angst vor dem langen Arm der Securitate und Angst vor Strafverfolgung. Es lohnt sich reinzuschauen, um zu hören, wie der Referent diese Gründe im Detail erläutert. Aber bitte nicht vor dem Selbsterkennen zurückschrecken. So waren und sind wir Banater Schwaben nun mal – also nicht besser oder schlechter als andere auch.
Der Historiker für neuere und neueste sowie osteuropäische Geschichte Georg Herbstritt hat unter anderem auch die zusammen mit Stejărel Olaru verfassten Bücher Stasi și securitatea, Bukarest 2005 und Vademekum Contemporary History Romania. A Guide through Archives, Research Institutions, Libraries, Societies, Museums and Memorial Places. Berlin, Bukarest 2004 veröffentlicht. Bei der virtuellen Kulturtagung der Banater Schwaben (28. November 2020) hat er das Referat Ein Tor in den Westen? Wie DDR-Bürger versuchten, über Rumänien in die Bundesrepublik zu gelangen gehalten. Er sagt gleich zu Beginn seiner Ausführung, dass es sich um das in Historikerkreisen bekannte Phänomen der „verlängerten Mauer“ handelt. Sein kurzer Beitrag, 11.01 Minuten, ist eigentlich der beste Beweis dafür, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges keine absolute Abschottung gab – besonders nicht für mutige, freiheitsliebende Menschen.
Der aus Jahrmarkt stammende und in Augsburg lebende Journalist und Banater Heimatkundler Luzian Geier hat seinem Referat den Titel Die Entwurzelung, die Familienzusammenführung und der Druck „von unten“ gegeben. Er findet, „dass viele Aspekte, nicht nur Unwesentliches, nicht aufgezeichnet sind und auch nicht in den Archivakten stehen, manches, gerade subjektive oder emotionale Aspekte sind nicht gut fassbar bei der Gewichtung des Ursachenbündels für die Auswanderungen aus Nachkriegsrumänien.“ Das ist schon mal ein vielversprechender Einstieg für neugierige Zuhörer. Es könnte ja in diesem Themenkomplex doch noch etwas geben, das man nicht kennt. Das müssen gar nicht die Statistiken sein, die Geier vorlegt, sondern vielmehr die geschichtlichen Zusammenhänge, die letztendlich zur „Familienzusammenführung“ hinführten. Ich weiß natürlich nicht, mit welcher Intention der Referent hier ans Werk gegangen ist. Auf jeden Fall ist es ihm gelungen, überzeugend darzustellen, dass nicht allein materielle Gründe die Auswanderung der Deutschen aus Rumänien bewirkt haben, sondern dem Phänomen ein gewichtiger soziokultureller Aspekt zugrunde liegt.
Geschichtliche Ereignisse finden oft früher oder später den Weg in die Literatur. So auch das Verschwinden der deutschen Minderheit aus Rumänien. Dass dieses Ereignis die größtmögliche literarische Würdigung durch den Nobelpreis für Herta Müller erfahren hat, ist nur ein Aspekt dieser Literaturwerdung. Wer sich in der Szene ein wenig umschaut, wird unschwer erkennen, dass es mittlerweile unzählige literarische Arbeiten, viele abseits der ausgetretenen Verlagspfade, zu diesem Thema gibt. Natürlich hat man das längst auch bei den Initiatoren der banatschwäbischen Kulturtage aus dem Ländle erkannt und demzufolge einen Buchautor zu einer Lesung eingeladen. Herbert-Werner Mühlroth liest aus seinem Buch Eine Eisenbahn in meinem Traum. Meine Flucht aus dem kommunistischen Rumänien. (Video Nr. 7). Natürlich ein autobiographischer Text; wie könnte es auch anders sein bei einem aus Hatzfeld / Jimbolia stammenden Germanisten, Romanisten und Philosophen mit literarischer Neigung und gesunder Fantasie. Wir sind doch schon ewig alle weg. Aber eine Portion Spannung und Gänsehaut schadet nie.
Und das Sahnehäubchen kommt zum Schluss wie bei jeder gelungenen Torte: Das traditionelle Samstagskonzert der Kulturtagung - Wilfried Michl (Bariton), Eva Maria Wagner (Violine) und Franz Metz (Klavier & Orgel) präsentieren Werke der Klassik und von Banater Komponisten. Das einstündige Konzert ist ja noch nicht beendet, es beginnt bei jedem Klick von vorne. Wer musikalische Darbietungen (dazu gehört auch Information) in Reinkultur erleben will, sollte sich auch dieses letzte Video der 56. Landes-Kulturtagung der Banater Schwaben aus dem Ländle anschauen.
Liebe Zelda Biller, es gibt sie noch (wenn auch nur sporadisch in Erscheinung tretend), die Menschen, „die sich auch für die Vergangenheit und für Biografien, also für die Frage danach, wer wir aufgrund von unserer Vergangenheit sind, interessieren.“ Man könnte auch mit einem vom rumänischen Historiker Adrian Cioroianu gerne benutzten Satz auf die eingangs zitierte Frage antworten: „Istoria rămâne cea mai frumoasă poveste ... pentru oameni inteligenți.” („Die Geschichte bleibt die schönste Erzählung … für intelligente Menschen.“)
Anton Potche
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