Mittwoch, 24. März 2021

Ein kühner Vergleich – aber essaytauglich

Ana Blandiana: In einer spanischen Herberge – Essays, Edition Noack & Block in der Frank & Timme GmbH, Berlin, 2012; ISBN 978-3-86813-010-2; 128 Seiten; 14,80 EUR.

Als ich den Titel dieses Buches auf dem Umschlag las, dachte ich gewohnheitsgemäß zuerst an einen Thriller, dem auch das Titelfoto ganz gut zu Gesicht stehen würde. So kann man sich täuschen. Schon die mit kleinerer Schrift vermittelten Informationen des Umschlags sprachen eine andere Sprache: Ana Blandiana, eine der bekanntesten lebenden rumänischen Schriftstellerinnen und vor allem Dichterin, und Essays.

Die Titelseite des Taschenbuches ließ mich dann schnell eine Bestellung tätigen. Dort steht zusätzlich, dass dieser Essayband von Katharina Kilzer, eine Jahrmarkter Landsmännin, herausgegeben wurde, und zu den Texten Ana Blandianas auch solche von Maria Herlo und Helmut Müller- Enbergs zu lesen wären. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Journalistin und Literaturwissenschaftlerin Katharina Kilzer, der Politologe Dr. Helmut Müller-Enbergs und Maria Herlo (Literaturwissenschaft & Publizistik) auch bei anderen Buchprojekten schon erfolgreich zusammengearbeitet haben.

Nun wurde ich, das Buch aufschlagend, auch gleich gewahr, was es mit dieser geheimnisvollen „spanischen Herberge“ auf sich hatte. In einer kurzen Information Zum Titel des Buches steht unter anderem zu lesen: „Mit dem Bild einer ‚spanischen Herberge‘ ist ein Ort gemeint, an dem sich Menschen verschiedener Herkunft treffen, jedoch jeder verzehrt, was er sich mitbringt.“ Mit dem „Bild“ ist auch nicht die Abbildung auf der Vorderseite des Buchumschlages gemeint – die zeigt eine Postkarte von Sighet um 1922 -, sondern ein tiefer gehendes Motiv, wie es Redensarten oft eigen ist. Hier soll sie, die Redensart, ausdrücken, dass „Jeder empfindet anders. Es gibt keine alleinige Wahrheit.“

In solche philosophischen Labyrinthe wollte ich mich aber schon vor Beginn des eigentlichen Lesens der Blandiana-Essays partout nicht begeben. Und dabei half mir eine im wahrsten Sinne des Wortes pragmatische, zur rechten Zeit einschießende Erinnerung. Wir waren mit der Kaszner-Kapelle in Hatzfeld – es war irgendwann in den ausklingenden 1970er Jahren. Dort sollten wir den Brotsack-Ball spielen. Was wir dann auch taten und den Gebrauch einer „spanischen Herberge“ am eigenen Leibe, sprich, im knurrenden Magen zu spüren bekamen. Auch zu einem Brotsack-Ball brachten die Teilnehmer ihre eigenen Leibspeisen mit. Nur hatte damals in Hatzfeld niemand an die Musikanten aus Jahrmarkt gedacht, die diesen Gebrauch von zu Hause nicht kannten.

Zum Glück konnte ich mich jetzt gesättigt dieses Buches annehmen. Auch es beginnt wie die meisten Bücher mit einem Vorwort, verfasst von der Herausgeberin. Nun ist Katharina Kilzer als großer Blandiana-Fan bekannt. Und das lässt sie auch diesmal schwärmen: „Sie [Ana Blandiana] ist eine unermüdlich schreibende Wegelagerin, für die, wie einst Solschenizyn sagte, es das größte Unglück wäre, wenn sie einmal kein Blatt Papier und keinen Bleistift mehr hätte.“

Weil aber beides vorhanden war und hoffentlich noch ist, darf der neugierige und schöngeistige Leser – Letzteren meine ich natürlich ganz ohne jedweden Selbstbezug – sich den Geistesschwingen der rumänischen Dichterin und Bürgerrechtlerin hingeben. Mit Gewinn, kann ich für mich sagen. Wie bei Essays üblich, erfährt man in solchen Texten, die ja oft sogar dem Anspruch genügen, poetischen Klang mit handfester Alltagsrhetorik zu verbinden, immer viel über den Menschen hinter dem Journalisten, Geisteswissenschaftler, Poeten und Schriftsteller, ja manchmal sogar Politiker. Auch Ana Blandiana eröffnet ihr Herz und teilt für viele überraschend gleich zu Beginn dem geneigten Leser mit: „Während meines gesamten Lebens hatte ich immer nur einen Wunsch: allein zu sein.“ Ist das eine Bedingung, um überhaupt eine erfolgreiche Dichterin zu werden? Vielleicht. Die heutige Zeit suggeriert aber etwas anderes. Denken wir nur an das Poetry-Slam-Phänomen.

Aber allein war die Dichterin in Rumänien nie. Dafür sorgte schon der überaus fürsorgliche Staat. Tragisch für die Literatin ist allerdings, dass sie gar keine festen Beweise für diese Staatsliebe hat, um ihm, dem Staat, wenigstens im Nachhinein dafür danken zu können, wie sie in dem Essay In einer spanischen Herberge – Über Bücher und Geheimdienste schreibt: „Obwohl es mir bisher nicht gelungen ist, meine Securitate-Akte zu lesen (da sie angeblich vernichtet wurde), habe ich keine Zweifel, dass es sie gibt, dass es auf jeden Fall eine Akte gab.“

Da darf sich Ana Blandiana allerdings über mangelndes Verständnis seitens der Securitate und ihrer nachfolgenden Seilschaften nicht wundern, zeigte sie sich doch selber in höchstem Maße undankbar für die Mühe, die sich die Securitate und die rumänische Zensur mit ihr gegeben haben. Den Beweis dafür liefert sie selbst in dem Essay Menschen ohne Gedächtnis: „Vor dem 22. Dezember 1989 war ich eine Schriftstellerin mit 24 veröffentlichten Büchern, zweien in der Schublade, drei Schreibverboten und einer einzigen Obsession: zu schreiben, was ich dachte, und zu veröffentlichen, was ich schrieb.“ Also bei so viel Widerspenstigkeit kann man auch im Nachhinein schon mal mit Aktenlosigkeit bestraft werden. Natürlich gibt es auch dafür eine plausibel klingende Erklärung: „Der Kommunismus ist zwar als System verschwunden, aber nicht als Mentalität und Methode.“

Dass ein so bewegtes Dichterdasein auch so manche Anekdote generiert, die den gefesselten (das ist man oft seitenweise) Leser schmunzeln lässt, obwohl die Autorin sich darüber furchtbar aufgeregt haben muss, ist nicht schwer zu erahnen. In dem 2011 von Ana Blandiana an der Babeș-Bolyai-Universität in Cluj-Napoca / Klausenburg gehaltenen Vortrag Von der Zensur als Form der Freiheit zur Freiheit als Form der Zensur heißt es in einem von jeglichem Nachtragen entkernten Ton: „Man schlug vor, meinen Roman, die Applausmaschine, zu übersetzen. Nach einigen Monaten bereits erhielt ich die deutsche Fassung des Romans. Der Unterschied war, dass diese Fassung anders endete als mein Buch. […] Als ich protestierte, antwortete der Verleger etwas zynisch, dass er nicht ahnen konnte, dass meine 350 Seiten in deutscher Übersetzung 520 Seiten ergeben würden. […] Der Verleger hatte, wie bei einer Salami, einfach das Ende abgeschnitten.“ Vielleicht war der gute Verlagsmensch gerade in bester Faschingslaune, so nach dem Motto des Schlagers Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Oder anders gesagt: Ein deutscher Verleger (Steidl, 1993) kann schon mal von der Leichtigkeit einer rumänischen Literatursprache so überrascht sein, dass er wie ein kommunistischer Zensor reagiert. (Am Übersetzer Ernest Wichner wird es wohl kaum gelegen haben.) Solche Vorfälle gebären nun mal Essay-Literatur vom Feinsten.

Ana Blandiana berührt und vertieft mehr oder weniger viele Lebensbereiche. Ihr gesellschaftliches Engagement (Memorial Sighet) ist außergewöhnlich und erfährt mittlerweile weit über die Grenzen Rumäniens hinaus Anerkennung. Und wenn dieser Einsatz für die Geschichte Rumäniens und die Demokratie weltweit auch noch Brücken in die Sprache schlägt, dann darf der Leser sich des ein oder anderen in den Texten aufleuchtenden Aphorismus erfreuen oder sich von ihm zum Nachdenken anregen lassen. „Die heimliche Kunst der Demokratie liegt in den Proportionen und besteht in der Weisheit, niemandem so viel Macht zu verleihen, dass er verleitet wird, sie ganz und gar für sich beanspruchen zu wollen“, heißt es in Fragmente über Freiheit. Die immer häufiger auftauchenden Scheindemokratien lassen mit ihren höhnischen Fratzen grüßen. Damit geht auch der erste Teil des Buches zu Ende.

Im zweiten Teil sind Auszüge aus einem Gespräch zwischen Ana Blandiana und Dr. Joachim Gauck am 3. Dezember 1999 in Frankfurt am Main und drei Essays von den Übersetzern der rumänischen Texte ins Deutsche, Anas Ernte von Helmut Müller-Enbergs, Begegnungen mit Ana Blandiana von Maria Herlo und Blandiana aus Blandiana – Vom Ursprung zur Freiheit des Wortes von Katharina Kilzer, veröffentlicht.

Trotz aller landsmannschaftlicher Befangenheit muss ich das zum Schluss noch loswerden: Ich habe selten einen so fesselnden, sprachlich hochwertigen und einfühlsamen Essay gelesen wie den von Katharina Kilzer. Was Bewunderung und Anerkennung für eine Modelleurin der rumänischen Sprache doch alles bewirken kann. Es soll ja sogar Leute geben, die sich in dem Banater Dorf Murani, unweit von Bruckenau / Pișchia, einen Zweitwohnsitz zugelegt haben, nur um den Geist der großen Literatur zu spüren, lebten Ana Blandianas (bürgerlicher Name: Otilia-Valeria Coman) Eltern doch zeitweise in diesem Dorf. Zum Sterben kehrte Otilia Coman, geb. Diacu, die Mutter, aber dann doch zurück in ihr Heimatdorf am Fuße der Westkarpaten. Eben nach Blandiana. Auch Katharina Kilzer machte sich an einem „Sommertag im Juli 2011“ auf den Weg dorthin. Und was sie sah, brachte ihre Phantasie ganz schön in Schwung, liegt die Marosch doch ein Stückchen weg von der Heckengemeinde Jahrmarkt, ihrem Geburts- und Kindheitsort mit den beschaulichen Wassergräben in den Dorfgassen. Aber nicht von ungefähr ist die Gattung Essay eine der persönlichen Betrachtung, subjektiven Verarbeitung und daraus resultierenden Kreativität unterliegende Literaturform. Und Katharina Kilzer beherrscht sie in beeindruckender Weise, wenn sie zu ihrem Besuch im Dorfe Blandiana festhält: „Windlos breitete sich in der Mittagshitze eine angenehme Kühle neben dem Wildbachufer aus. Je mehr ich voranschreite, den Geruch des Wassers, der Erde, der Bäume, des Straßenstaubs und der gesamten Landschaft in mich aufsauge, fühle ich mich zu Hause. Ein Stück aus meiner Kindheit? Es ist die Marosch, der Fluss der Dorflandschaften meiner Kindheitsorte im Banat.“ Ein kühner Vergleich – aber essaytauglich.

Anton Potche


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