Montag, 7. März 2022

Es ist so bitter kalt

Es ist so bitter kalt an diesem 5. März 2022. Und mich plagt das verrückte Gefühl, etwas tun zu müssen ... gegen diesen barbarischen Krieg, am 24. Februar vom Zaun gebrochen von einem irrsinnigen Diktator in Moskau. Er lässt seine Armee das Nachbarland Ukraine zerstören. Willkür in denkbar höchster Ausprägung. Und ich fühle mich seit Tagen so hilflos und wütend. Und vor allem ohnmächtig! Ich muss hinaus in die bittere Kälte. Dort gibt es bestimmt Gleichgesinnte. Das beruhigt. Zumindest für ein, zwei Stunden, oder wie lange so eine Demonstration dauert.

Schon auf dem Weg zum Ingolstädter Paradeplatz scheint mir am Sitz der Johanniter – im gleichen Gebäude mit der ESV-Sporthalle - ungewöhnlich viel Betrieb zu sein. Nur wenige hundert Meter weiter ist die Paul-Wegmann-Sporthalle von Rotkreuzfahrzeugen regelrecht belagert. In meiner Naivität kommt mir nicht in den Sinn, dass das alles etwas mit meinem angepeilten Ziel zu tun haben könnte: die Antikriegsdemonstration auf dem Paradeplatz. Als ich vom Fahrrad steige (wie gewöhnlich bin ich spät dran) spricht schon der Oberbürgermeister von Ingolstadt zu den versammelten Demonstranten. Viele tragen blau-gelbe Fähnchen und Fahnen: Himmel & Weizen.

OB Christian Scharpf
Die Ukrainer kämpfen und fallen für ihre Unabhängigkeit, für ihre Freiheit. Aber viele von ihnen sind auf der Flucht vor dem Bösen. Besonders Frauen mit ihren Kindern. Und sie kommen auch zu uns. Täglich mehr. OB Christian Scharpf (SPD) spricht gerade von ihnen: „Wir wollen und werden die Ukrainerinnen und Ukrainer, die zu uns kommen und bei uns Schutz suchen, bei uns aufnehmen. Und wir tun als Stadt gerade alles, um dies schnell zu organisieren. […] Wir haben beschlossen, dass wir eine Hilfsunterkunft einrichten werden, und die stand um 18 Uhr in der ESV-Halle. Und um 22 Uhr waren die ersten Flüchtlinge da. Und heute in der Früh‘ hat sich herausgestellt, die Kapazität ist bereits zu drei Viertel belegt. Wir haben dann in aller Früh' gleich die Paul-Wegmann-Halle hergerichtet […] für weitere 100 bis 200 Flüchtlinge.“ Jetzt weiß ich es. Die Folgen des Krieges in der Ukraine, ca. 1800 km entfernt von hier, sind in unserer unmittelbaren Nähe angekommen, in unserer Straße und in der Nachbarstraße. Der Oberbürgermeister spricht weiter von Solidarität und der Hilfsbereitschaft aller mit diesem Flüchtlingsstrom tangierten Organisationen in der Stadt, aber auch der Bürger. Und er wird emotional, wenn er in die Menge ruft (die Lokalzeitung berichtet von 400 Teilnehmern, ich glaube, es waren weniger): „Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein. Das ist eine Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, die wir jetzt erleben. Dass man in Europa meint, Grenzen verschieben zu können, das war für mich unvorstellbar bis vor einer Woche. Das ist der Krieg von Wladimir Putin. Das ist nicht der Krieg des russischen Volkes gegen seine Brüder und Schwestern in der Ukraine.“

Dieser Meinung sind in diesen Tagen viele, sehr viele Menschen in Europa. Das ist auch immer wieder, mehr oder weniger direkt angesprochen, die Auffassung aller Redner, die auf dieser Kundgebung das Wort ergreifen. Der Name Wladimir Putin schwebt wie ein zerstörerischer und Ängste einflößender Geist über den Köpfen der Anwesenden. In Ingolstadt leben ungefähr 5000 Menschen mit russischem und rund 1600 Menschen mit ukrainischem Migrationshintergrund. Und das veranlasst den Oberbürgermeister auch zu folgendem Aufruf an die Bürger Ingolstadts: „Wir dürfen es nicht zulassen, dass wir uns in unserer Stadt auseinanderdividieren lassen, uns gegeneinander aufhetzen lassen.“ Dass diese Gefahr durchaus besteht, verdeutlicht auch die Stadträtin der Linken Eva Bulling-Schröter an einem Beispiel, als sie erzählt, dass eine russischstämmige Geschäftsfrau sie angerufen und gefragt hat, ob sie sich jetzt fürchten müsse.

Fotos: Anton Potche
Deutliche Worte für all das, was jetzt in Osteuropa passiert, findet auch der CSU-Stadtrat und Landtagsabgeordnete Alfred Grob: „Wir befinden uns mitten in einem schrecklichen Krieg, der inmitten von Europa tobt und den der russische Präsident, das muss man hier klar und deutlich sagen, Wladimir Putin angeordnet hat und, koste es was es wolle, auch eskalieren lässt. […] Ich glaube, dieser Mann weiß überhaupt nicht, was er tut, und ist mittlerweile außer Rand und Band. […] Putin ist ein Kriegsverbrecher.“


Halyna Havryliak & Alexander Reis

Repräsentanten aller im Stadtrat Ingolstadt vertretenen Parteien außer der AfD haben sich mit Ansprachen bei dieser Antikriegsdemonstration zu Wort gemeldet. Und weil auch solche Veranstaltungen einer guten Regie bedürfen, bittet der Initiator dieser Kundgebung, Alexander Reis, ein Russlanddeutscher, der schon vorab im DONAUKURIER mit der Feststellung zitiert wurde „Es ist kein Krieg der Russen. Es ist Putins Krieg“, die aus der Ukraine geflüchtete Halyna Havryliak auf die Rednerbühne. Spätestens jetzt spürt so manches Auge eine zarte Träne. Die Frau spricht in sehr gutem Deutsch von ihrer Flucht aus der Kriegsregion, von ihrem Kind und ihrem dort zurückgebliebenen Mann.

Es ist so bitter kalt. Und es fröstelt mich auf dem Heimweg noch deutlich spürbarer als auf dem Hinweg. Diesmal schaue ich genau hin und habe eine Erklärung für die zwei schmächtigen, erkennbar eingeschüchterten Frauen mit je einem Rollkoffer vor einer Bank an der Paul-Wegmann-Halle. Mein Gott, es ist dieselbe Bank, auf der ich vor Jahren immer saß und meiner Enkelin beim Spielen zuschaute, während wir auf Oma, die von der Arbeit kam, warteten. Normalität, Herr Putin, Normalität! Mehr wünschen sich auch diese zwei Frauen nicht. Ihnen das zu gewähren, kann doch unmöglich so schwer sein … für einen normal denkenden Menschen.
Anton Potche

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