Montag, 21. März 2022

Freie Liebe als Abwechslung im spröden Arbeits-Vergangenheitsbewältigungs-Alltag

Max von der Grün: Zwei Briefe an Pospischiel – Roman; Hermann Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied, 1968; ISBN 3-472-061155-3; 221 Seiten; DM 8,80 (noch vorhanden bei Online-Händlern).

Zu meiner Werkerzeit gab‘s, wenn ich mich gut entsinne, ist ja jetzt auch schon wieder zehn Jahre her, drei freie Tage im Jahr, die man unangemeldet nehmen konnte - eine der vielen Gewerkschaftserrungenschaften in diesem Land. Zu Pospischiels Zeiten war das noch anders. Und das hatte für den Angestellten eines Elektrizitätswerks in Dortmund Konsequenzen.

Zwei Briefe an Pospischiel ist ein Roman aus der 
Arbeiterwelt, präzise postiert in einer Zwitterwelt zwischen physischer Arbeit und Büroalltag, eine Überwachungstätigkeit im Steuerungsraum, „die Werte“ genannt.
Max von der Grün (1926 - 2005) kennt die Welt der Arbeit. Er war in seinem Leben schon Baumwollpflücker, Zuckerrohrschläger, Holzfäller, Bergmann, Bauarbeiter, aber auch Presbyter und letztendlich Schriftsteller.


In dem hier besprochenen Buch geht es nicht nur um Arbeitsbedingungen und -rechte, sondern auch um die Vergangenheit und dem Sinn oder Unsinn, ihr nachzuspüren. Es gibt immer wieder Sätze mit Symbolkraft. So etwa wenn es zu Dortmund heißt: „In unserer Stadt weiß man nie so genau, woher die dunklen Wolken kommen, vom Himmel oder von der Industrie.“ Ein Unheil zieht auf. Dunkle Wolken brauen sich zusammen. Paul Pospischiel rennt einem Phantom hinterher, einem „Mann ohne Gesicht“. Pospischiels Arbeitskollegen und Chefs, denen er sein Anliegen vorträgt, diesen Mann in Ostbayern, wo er, Pospischiel, eigentlich herkommt, zu suchen, kommt das allerdings doch recht einfältig vor. Sie können seinen Vorstellungen nicht folgen. Die Zeit der Henleins in der Tschechei liegt schon so lange zurück. Das war 1938. Auch wenn sie, die Henleins, Pospischiels Vater, ein Bibelforscher, wie man damals die Zeugen Jehovas nannte, ins KZ brachten. Wir schreiben jetzt 1967.

Die Zeit der großen Umbrüche ist da. Und obwohl die Jugend Vergangenheitsbewältigung einfordert, bleibt die Mitte der deutschen Gesellschaft spürbar passiv. Arbeitsdirektor Teuerkauf antwortet auf Pospischiels Frage, was passieren würde, wenn er, Pospischiel, sich einfach mal drei Tage freinehmen würde, um sein Phantom zu sehen: „Pospischiel, seien Sie vernünftig, Sie werden doch nicht den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Sie leben heute, hier, in Dortmund. Nicht gestern, in Eger.“

Aber Pospischiel will nicht hören. Er missachtet auch den Rat von Frau und Tochter und begibt sich auf den Weg in die Vergangenheit. Obzwar hier bestimmt der Weg nicht als Ziel gedacht war, landet unser Held auf der Fahrt nach Waldsassen erstmals brutal in der Gegenwart. Die angepeilte Vergangenheit hat plötzlich Zeit. Und Max von der Grün klingt ab da ganz anders, nicht mehr so zögerlich, verhalten, ja sogar ängstlich. Schließlich und endlich spielt der Roman im Jahrzehnt der freien Liebe. Und Pospischiel lässt eine Anhalterin aus Hannover zusteigen. Ein Mädchen, jung, hübsch und liebesdurstig. Das Auto hält abseits der Landstraße. Der Erzählstrom ist unterbrochen.

Max von der Grüns Prosa mutiert zur Poesie. Und das in einem Arbeiter- und Aufarbeitungsroman. Wie schön: „Das Mädchen war glitschig geworden, dagegen war nichts zu sagen, es war kraftvoll und geschickt, dagegen war nichts zu sagen, und ich versagte nicht, wie in manchen Nächten bei Gerda, es war hungrig, heiß, schwer und naß und hungrig, dagegen war nichts zu sagen, und es ließ sich erschöpft gegen mich fallen, und dagegen war nichts zu sagen, und die Sonne brannte und der heiße Schatten der Ulme trocknete den hellen Schweiß ihres Körpers, und dagegen war nichts zu sagen, und die Autos fuhren von und nach Coburg, und dagegen war nichts zu sagen, und eine russische Stimme sagte auf Englisch: five kilometers to border, und dagegen war nichts zu sagen, und das Mädchen biß mein Ohr und flüsterte: wir müssen nun fahren, die Sonne senkte sich an der Ulme vorbei, und dagegen war nichts zu sagen, Schwalben segelten, Traktoren tuckerten über Felder, und dagegen war nichts zu sagen, und das Mädchen flüsterte, wie müde es sei, und dagegen war nichts zu sagen. Vor Coburg verriet das Mädchen, daß es nicht nach Coburg wolle.“

Dann kehrt der Autor wieder zu seiner linearen Erzählform und dem grübelnden Ton zurück. Das ist umso leichter nachvollziehbar, als die Handlung in der ersten Person spielt. Aber Obacht! Max von der Grün schreibt seine – stellenweise hervorragenden – Dialoge ohne Anführungszeichen. Also ist höchste Konzentration gefragt. Aber Weiterlesen lohnt sich immer, denn die Spannung wird über die meiste Zeit hochgehalten. Pospischiel begegnet irgendwann dem „Mann ohne Gesicht“. Viel hat er aber nicht von dieser Begegnung und kehrt zurück ins spannungsgeladene Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Klima. Wer sein Arbeitsleben an einer Werkbank, einer Maschine, einem Fließband oder in einem Großraumbüro bestritten hat, fiebert auch nach den poetischen Liebesszenen (es gibt noch weitere) dem Ausgang des Konflikts zwischen Pospischiel und der Unternehmensleitung entgegen. Pospischiel hat seinen Arbeitsplatz immerhin ohne Genehmigung für einige Tage verlassen. Ob es sich gelohnt hat – schon wegen den Liebesabenteuern - oder nicht, erfährt, wer das Buch bis zur letzten Seite liest ... oder sich den Film (DVD) zu dem Roman anschaut. Eine DDR-Produktion aus dem Jahre 1970, Regie: Ralf Kirsten, ist noch bei Online-Händlern auf Lager.

Anton Potche

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