Der österreichische
Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Herausgeber Karl-Markus
Gauß hat ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel Die
unaufhörliche Wanderung und
ist schon vor zwei Jahren bei Paul Szolnay in
Wien erschienen. Es ist
das letzte seiner vielen Bücher. Einschließlich
der
Herausgeberschaften
habe ich bei Wikipedia 33 Werke gezählt. Der Radiosender MDR KULTUR
hat fünf Reportagen aus diesem Buch in
seiner Sendung Lesezeit
gesendet (Montag, 14. März, bis Freitag, 18. März, 9:00 Uhr).
Gelesen hat der Schauspieler
und Hörspielsprecher Michael
Rotschopf.
Und wie! Spürbar mit
Punkt und Beistrich und einer Diktion, die Gaußʼ
Formulierungen noch angenehmer
erscheinen lassen, als sie eh schon sind.
In
der ersten Reportage erzählt Karl-Markus
Gauß,
wie er zum Lesen kam und gewährt uns dabei Einblicke in sein
familiäres und schulisches Umfeld während seiner Kinder- und
Jugendzeit. Er kommt aus einem Vierbubenhaushalt einer
„nicht
gerade wohlhabenden
Familie
von
Heimatvertriebenen“
mit
einem Vater, der selbst Deutschlehrer
war, sein
„erster Deutschlehrer“.
Da fiel der Apfel nicht weit vom Stamm. Und Karl-Markus
lässt
uns teilhaben an einem Reifeprozess, an dessen Ende ein lesesüchtiger
Schmökerer stand, dessen letztendlich ausgewählte Bücher nicht
gegen „Anstreichungen“
gefeit waren, mit denen „besonders schöne oder störend ungelenke
Sätze“ gekennzeichnet wurden, eine bis heute bestehende
Gewohnheit, die dazu führt, dass der
längst etablierte Schriftsteller sich
nicht
„ohne einen Bleistift zuhand zu haben“, um in den Büchern
„Zeichen [seiner] Lektüre zu hinterlassen“, ans Lesen begibt.
Diese
erste Reportage, die natürlich sehr viel mehr Substantielles zum
Lesen freigibt, als hier nur gestreift werden kann, endet eigentlich
mit einem „Albumblatt“ für den „zweiten Deutschlehrer“ im
Leben des Karl-Markus
Gauß,
nämlich
Dr. Joseph
Gut,
„ein Leser und ein Lehrer, wie er im Buche steht“.
Schon die zweite Reportage lässt einen Zuhörer dann erschaudern. Zumal in der jetzigen Zeit. Sie trägt den Titel Unterwegs in Odessa. Und Gauß schreibt und Rotschopf liest von „Schönheit und Vollkommenheit“. Und sowohl der Autor als auch der Vorleser sind fasziniert von der aus der Moldau stammenden Reiseführerin Olga, die für jede Reisegruppe die ihr auf den Leib, sprich, in den Geist, geschnittene Reiseroute durch die ukrainische Stadt an der Schwarzmeerküste parat hat. Da gibt es die jüdische Geschichte mit all ihrer Tragik, die griechische und dann die der Schwarzmeerdeutschen, „von denen die ersten schon 1803, neun Jahre nach Gründung der Stadt, hierher gezogen waren“. Es gibt aber auch jene Villa mit dem mit „venezianischen Spiegeln“ bestückten Raum, in dem „1941 die 4. Rumänische Armee, die mit den Sondereinheiten der Wehrmacht den Völkermord an den Juden von Odessa exekutierte, ihr Oberkommando eingerichtet“ hatte. Das war freilich nur ein Völkermord in Odessa, nach dem Zweiten Weltkrieg sollte ein zweiter folgen, und was mit Sicherheit auch Karl-Markus Gauß nicht für möglich gehalten hätte, im Jahre 2022 ein dritter. Wie heißt es doch so bitter wahr in meiner banatschwäbischen Mundart: Was zwatt, dritt sich. Auf Hochdeutsch: Was zweimal passiert, wiederholt sich auch ein drittes Mal.
Es gibt in diesem Leseabschnitt noch zwei weitere Essays. Im ersten beschäftigt sich der Autor mit dem „Gaffer“ und gesteht ihm bei allem Spott, den er über ihn ausschüttet, zu, dass er lediglich das Opfer einer „anthropologischen Konstante, die in der Geschichte der Menschheit immer ihre Rolle gespielt hat“, ist – nämlich der „Schaulust“. Im zweiten Essay erfahren wir etwas Vom Verschwinden des Konkurrenten. Köstlich ist dieser kurze Diskurs vom Sprachgebrauch des Händlers zu dem der hohen Politik ... in Österreich.
Es ist Krieg. Auch wenn sein Auslöser es nicht wahrhaben will. Es ist Krieg, Herr Putin. Aber als Karl-Markus Gauß das niederschrieb, was Michael Rotschopf uns da erzählt, gab es keinen Krieg. Noch keinen in diesem Ausmaß. Seine, Gaußʼ, unaufhörliche Wanderung mutet heute, in Kriegszeiten, eher an wie eine unerhörte Wanderung. Sie führt uns am dritten Lesetag zum Turm zu Babel. Das ist eine Erzählung über Sprachen und über die Bekämpfung von Sprachen. Die eine Sprache sollte es sein, nämlich die, die den Machthungrigen die Macht auch sichert, auf Lebzeiten und auch darüber hinaus.
Dresden nennt sich der zweite Essay dieses Tages. Und er klingt, ja er ist sehr persönlich. Nicht nur wegen den Bomben. „In meiner Familienlegende spielt Dresden eine besondere Rolle“, führt uns Gauß in seine Familiengeschichte oder einen Teil davon ein. Es war Krieg. Und des Autors Mutter war auf der Flucht aus der Batschka „mit einem Säugling und einem dreijährigen Buben“ in Sachsen gestrandet. Was sie auf dieser und der weiteren Flucht erlebt hat, ist wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger als die Vorwegnahme dessen, was wir seit dem 24. Februar 2022 täglich in den Sondersendungen aller Fernsehkanäle sehen und hören. Als hätte der Autor diesen Krieg (den jetzigen) mit all seinen Flüchtlingsschicksalen erahnt, skizziert er bloß die Flucht seiner Mutter in wenigen Sätzen, um sich dem heutigen Dresden zuzuwenden. Und diese Zuwendung ist recht erfrischend.
Demut lauthals. Demut über alles, über alles in der Welt. Köstlich. Man könnte fast meinen, Karl-Markus Gauß sei unter die Kabarettisten gegangen. In der Unterstadt. Versuch über die Kloake. Ein Hohelied auf die Ratten. Fesselnde Gesellschaftskritik, die Gauß als einen der großen österreichischen Essayisten ausweist. Dieser vierte Lesetag Gauß - Rotschopf hat aber nicht nur mit Kabarett zu tun, sondern auch viel mit Karikatur, wenn es zum Schluss heißt: „Die Autobiographie der Stadt, wie sie in der verborgenen Gegenstadt der Kanäle, der Unterstadt der Wasserversorgung beschrieben wird, bietet weder die private noch die öffentliche Geschichte ihrer Bewohner. In dieser Gegenwelt wird vielmehr der Gegensatz von Privatem und Öffentlichem, wie er die funktionierende bürgerliche Gesellschaft bestimmt, auf merkwürdige Weise aufgehoben. Was hier zusammenströmt aus den Badewannen, den Küchenabflüssen, den Klosetts, stammt zwar aus dem intimen Bereich der Einzelnen – das Klosett wird in vielen Sprachen ja als der geheime Ort bezeichnet -, was aus dem intimen Bereich des Einzelnen stammt, vereint sich in der städtischen Unterwelt jedoch ununterscheidbar mit den Abwässern der unzähligen anderen Einzelnen. Und aus dieser Vereinigung wächst ein großer Strom, an dem jeder Teil hat und den doch keiner als Errungenschaft, als Produkt einer Gemeinschaft versteht, ein Strom von Ausscheidungen, den alle miterschaffen und niemand für den seinen hält. Diese Unterstadt, in der das Private und das Öffentliche sich aufheben, ist ein allen bekanntes Geheimnis, wie es der russische Ästhetiker Boris Groys einmal in anderem Zusammenhang genannt hat: ein Geheimnis das alle kennen und das ein jeder hütet.“ Ja, das ist die andere Seite des Karl-Markus Gauß: sein Humor. Sehr subtil.
Und dann die letzte Lesung. Es ist Freitag, der 18. März 2022 und Putins Rote Armee tobt sich weiter in der Ukraine aus. Und Michael Rotschopf liest: Die Renaissance der Grenze. Fünf Variationen. 1.) Der Fluss („Der Pruth fließt durch Regionen, die seit jeher von verfeindeten Großmächten umkämpft wurden, vom habsburgischen Österreich, zaristischen Russland, von den Osmanen.“), 2.) Von der Erfindung natürlicher Grenzen („Selbst die vorgeblich natürlichen Grenzen [Flüsse, Berge, A.d.V.] sind erfunden, sind künstlich gezogen, menschengemacht, aus Verabredung und Kampf hervorgegangen, auf Konvention und Gewalt gegründet, auch wenn sich ihr Verlauf an der Natur orientiert.“), 3.) Peripherie und Zentrum („Die Grenzen, die nicht überschritten werden durften, entstanden dort, wo auf der anderen Seite ungefähr gleichstarke Gruppen lebten, und der Ausgang eines Waffenganges gegen sie zu ungewiss war, um sie zu führen, oder selbst ein Sieg womöglich zu wenig eingebracht haben würde, als dass es für ihn zu kämpfen, gelohnt hätte. […] Die Grenze ist der äußerste territoriale Posten eines Staates, ist Peripherie schlechthin. An der Art der Grenze, die sie [die Macht, A.d.V.] der Peripherie verordnet, erweist sich nicht nur die Macht, sondern auch der politische Charakter des Zentrums.“), 4.) Die Wiederkehr der Grenze („1989 gab es in Europa 16 der Berliner Mauer vergleichbare Befestigungen, heute sind es mehr als 70.“), 5.) Was tun? („Was sind die Ursachen dafür, dass heute Abermillionen von dort aufbrechen, wo sie aufgewachsen sind, aber keine Zukunft für sich und die ihren mehr sehen? Es sind immer wieder der Krieg, politische Unterdrückung, religiöse Verfolgung, soziale Verelendung.“)
Karl-Markus Gauß FotoQuelle:sc.wikipedia.org |
Schon zwei Tage vor dieser „Renaissance der Grenze in fünf Variationen“ hatte Karl-Markus Gauß den Leipziger Buchpreis zur Europäische Verständigung zum Auftakt der zum dritten Mal nicht stattfindenden Leipziger Buchmesse bekommen: für sein Reportagen-Buch Die unaufhörliche Wanderung (Zsolnay, 2020). Und in seiner Kolumne in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG schreibt er an oben erwähntem Freitag „Über die Ukraine, die ihre Vielfalt nicht als Laster der Geschichte, sondern als Stolz der Gegenwart betrachtet“.
Seit jenem Freitag sind schon wieder fast drei Wochen vergangen und es ist noch immer Krieg, Putins Krieg in der Ukraine. Am 25. März benutzte die rumänische Radiomoderatorin Ema Stere in einem Gespräch mit der Verfasserin zahlreicher Biografien, Tatiana Niculescu, bei Radio România Cultural folgende Redewendung: Istoria nu se repetă, dar rimează. - Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Von Mark Twain soll der Satz stammen - was andere bestreiten. Wem auch immer der Spruch eingefallen ist, er hat leider Recht behalten.
Anton
Potche
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