Mittwoch, 20. April 2022

Vor 50 Jahren geboren, vor 47 gestorben

Und doch lebendig, könnte man sagen. Fast. Wäre da nicht das Erinnern an Rolf Bossert. Er ist tot. Und damit sind wir nolens volens bei der Aktionsgruppe Banat. Und bei einem runden Geburtstag. Am 2. April 1972 soll diese Gruppe junger, sehr junger Dichter in einem Redaktionsraum der NEUEN BANATER ZEITUNG in Temeswar ins Leben gerufen worden sein. Klingt nach einem Aprilscherz. War es aber nicht. Oder doch? Vielleicht, wenn man bedenkt, dass es den jungen literarischen Kombattanten gar nicht bewusst war, dass sie gerade eine geschichtsträchtige Aktions vollzogen, die so manchem von ihnen noch Kopfzerbrechen bereiten sollte. Dabei haben sie doch nur diskutiert, beschwören sie heute noch. Aber geschehen ist geschehen. Wenn die Geschichte mal von dir Besitz ergriffen hat, gibt es kein Entrinnen mehr.

Aber es gibt immer noch verschiedene Formen des Erinnerns. Etwa ein Gespräch über die Aktionsgruppe Banat, ein Gespräch unter sechs Augen, geführt von einem Literatur- und Kulturbesessenen und zwei Gründungsmitgliedern dieser Gruppe. Und bei YouTube oder Facebook noch immer abrufbar. Die Protagonisten dieses sehr interessanten Gesprächs: Erwin Josef Țigla, der Initiator, und die zwei Kombatanten aus alten Zeiten, Dr. Anton Sterbling und Albert Bohn.

Erwin Josef Țigla (l.) und
Anton Sterbling

Screenshot: Anton Potche
Eigentlich begann alles ganz harmlos in einem Großsanktnikolauser Lyzeum. Dort trafen sich junge Burschen, die mehr als Fußball und Mädels im Sinn hatten. Nämlich auch Literatur. Anton Sterbling erwähnt Werner Kremm, William Totok, Johann Lipett und Richard Wagner. Er selber stieß ein Jahr später zu dieser Gruppe. Während der folgenden Studentenzeit kamen noch Gerhard Ortinau, Ernest Wichner, Albert Bohn und Rolf Bossert dazu. Was ging in den jungen Köpfen vor, kann man sich fragen. Sterbling spricht von „Entdeckung der Welt“, „Erkennung der Welt“, „Erschließung der Weltdarstellung“ und von einer „Zeit der intellektuellen Prägung“. E. J. Țigla versucht durch seine Fragestellung, die Atmosphäre jener Zeit in der rumäniendeutschen Literaturszene zu eruieren. Und Sterbling lässt sich nicht zweimal um Auskunft bitten. Da waren sie, die Mitglieder der Aktionsgruppe und ihnen nahe stehende Freunde wie etwa Helmuth Frauendorfer, Roland Kirsch, Herta Müller, Horst Samson und Werner Söllner. Es gab aber auch als Autoritäten geltende Schriftsteller und Literaturkritiker der deutschen Sprache. Erwähnung finden in diesem Gespräch Paul Schuster, Gerhardt Csejka, Anemona Latzina, Helga Reiter, Peter Motzan und Bernd Kolf. Und es gab „zu den anderen eher ein kritisches Verhältnis. [...] Das war schon eine gesunde Konkurrenz, die sich damals auch entwickelt hat.” Und wichtig war auf jeden Fall die Unterstützung, die aus den Reihen der Älteren trotzdem kam. Natürlich fällt in dem Gespräch auch irgendwann das Wort „Securitate”. Da gibt es bestimmt in der Aktionsgruppe und bei anderen rumäniendeutscher Schriftstellern dieser Generation verschiedene Empfindsamkeiten, die etwas mit der Auswanderungszeit der Betroffenen zu tun haben. Anton Sterbling und Ernest Wichner sind schon 1975, dem Jahr der Zerschlagung dieser Gruppe, in die Bundesrepublik Deutschland ausgewandert, während die anderen noch Einiges durchmachten, bis sie Rumänien freiwillig oder notgedrungen verlassen konnten. Darum heißt es in Sterblings Stellungnahme auch eher lapidar, dass der Aufmarsch der Securitate eine „gewisse Bedeutung“ der Akionsgruppe Banat unterstreicht.

Erwin Josef Țigla (l.) und
Albert Bohn
   Screenshot: Anton Potche
Das zweite Aktionsgruppemitglied in diesem anderthalbstündigen Gespräch gehört nicht zu den Gründungsmitgliedern, wie er gleich zu Beginn seiner Einlassung betont, sondern ist zwar auch 1972 zur Gruppe gestoßen, doch nachdem sie sich schon als solche formiert hatte. Er, Albert Bohn, hatte aber schon literarische Gruppenarbeit im Arader Literaturkreis Nikolaus Schmidt kennengelernt. Ausgereist ist er im Jahre 1981 und nicht 1975, wie man bei WIKIPEDIA nachlesen kann. Er ist eigentlich das Mitglied, von dem man in Deutschland am wenigsten gehört hat, weil er sich nach seiner Ausreise weitgehend aus dem literarischen Leben zurückgezogen hat. Eigentlich schade, kann man auch nach dieser Online-Veranstaltung mit Fug und Recht sagen, denn beide Mitglieder der Aktionsgruppe lesen Gedichte aus ihren Œuvres. Und die sind nicht die schlechtesten. Wie sich Gelesenes in Dichterköpfen einprägen kann, um sich dann in Kreation umzuwandeln, kann man sehr gut an Bohns Gedicht Lied der Fischer nachvollziehen. Als ich dieses Gedicht des damals 16-jährigen Dichters hörte, dachte ich sofort an Paul Celan. Und ich erinnerte mich auch gleichzeitig, dass ich in meinem damaligen Alter Karl May regelrecht verschlungen habe, ohne etwas von einem Paul Celan gehört zu haben.

Erwin Josef Țigla hat zu diesem Gespräch eingeladen. Und er hat es sich nicht nehmen lassen, diese Video-Veranstaltung mit einem Paukenschlag zu schließen: eine Lesung mit Rolf Bossert von einer Electrecord-Schallplatte aus dem Jahre 1982, die noch weitere Lesungen von Richard Wagner, William Totok, Horst Samson, Johann Lippet, Helmuth Frauendorfer und Werner Söllner enthält. Die Vinyl-Produktion trägt den Titel Junge deutsche Dichter aus dem Banat – Tineri poeți germani din Banat.

Das sehr interessante Video wurde am 1. April 2022 auf YouTube veröffentlicht. Bis heute haben es 66 User dort angeklickt. Wer meint, das wäre wenig, kann sich die Schilderung von Anton Sterbling zu Gemüte führen. Der sagt nämlich in diesem Gespräch (https://www.youtube.com/watch?v=9QX6CuKImt4 ) unter anderem auch: „Wir sind dann in der Zeit [Studentenzeit, A.d.V.] immer wieder mal in den einen oder anderen Ort, auf die Dörfer gefahren. Das war so bisschen die Naivität, die Literatur bekannt zu machen durch Lesungen. […] Die Resonanz war nicht allzu groß, wie man sich das vorstellen kann. Und auch das Verständnis für unsere Art von Literatur war wahrscheinlich auch begrenzt bei der banatschwäbischen Bevölkerung. Wie überhaupt, wer lässt sich schon von Literatur gewöhnlich ansprechen? Das sind immer nur kleinere Bevölkerungsteile, Bevölkerungsgruppen.“ (Selber Schuld, würde ich sagen. Warum haben die Jungs sich keine Blaskapelle zu ihren Lesungen eingeladen?)

Anton Potche

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