Die Zeiten, in denen man die
Geschehnisse von der Frankfurter Buchmesse nur über den
Fernsehapparat, das Radio oder die Zeitungen und Zeitschriften
mitbekam, sind längst vorbei. Via Internet präsentieren
verschiedene Aussteller eigene Formate, die mit mehr oder weniger
Erfolg versuchen, die Atmosphäre von dem großen Büchertreff in
Frankfurt in die Welt zu senden. Die Verlagsgruppe Penguin Random
House hat in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift STERN 37 Live-Talks
von der Buchmesse gesendet. Journalisten vom STERN unterhielten sich
jeweils 30 Minuten lang mit Autoren, deren Bücher in dieser
Verlagsgruppe erschienen sind. Man trifft in dem Stundenplan dieser
mit „Die 30-Minuten-WG“ betitelten Internet-Sendung durchaus
bekannte Namen wie etwa Amelie Fried, Wladimir Kaminer,
Charlotte Link oder Richard David Precht.
Auch der Name Schirach ist
kein unbekannter. In diesem Social-Media-Format der Verlagsgruppe
trat aber nicht Ferdinand Benedikt von Schirach, der im
deutschen Sprachraum bestens bekannte Schriftsteller und Jurist, zu
einem Gespräch mit der STERN-Journalistin Catrin Boldebuck
an, sondern sein älterer Bruder Norris Benedikt von
Schirach. Und der ist alles andere als ein uninteressanter Autor.
Schon
seine Biografie gibt einiges her. Er
wurde 1963 in München als Enkel des ehemaligen Reichsjugendführers
der NSDAP Baldur
von Schirach
(1907 – 1974) geboren und hat an der Universität Konstanz
Verwaltungswissenschaften studiert. Er gilt als „Rohstoffexperte
und Kupferspezialist“ (Wikipedia) und hat als solcher in den USA,
Russland und Kasachstan gearbeitet. Heute lebt er in Bukarest. Und er
schreibt Romane. Vor fast auf den Tag genau vier Jahren (21. Oktober
2018) fragte Julia
Encke
in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG: „Wer ist Arthur Isarin?“
Und in einer
sehr lesenswerten Rezension des von Arthur
Isarin
verfassten Romans Blasse
Helden
wird
der Autor dann wie folgt zitiert: “Ich
wollte vor allem unvoreingenommene Leser und Kritiker haben und
dachte, dass das nicht gegeben ist, wenn jetzt noch einer von denen
schreibt. Das war der wichtigste Grund. Der Benni, also mein Cousin
Benedict Wells, der Richard, Ariadne und natürlich mein Bruder
Ferdinand – da steht dann nicht mehr das Buch im Vordergrund.“
Also haben wir es auch hier mit einem Schriftsteller aus der
Schirach-Familie
zu tun. Und er verriet schon damals, dass er bereits an einem zweiten
Roman arbeite. Dieser liegt jetzt vor und war Gegenstand des
Gesprächs auf der Frankfurter Buchmesse – aber
nicht unter Pseudonym.
Beutezeit
heißt
das
Buch,
das
im Programm als „ein
beeindruckend aktueller, hochspannender Roman über eine
postsowjetische Gesellschaft, die im Sumpf aus Korruption und Terror
versinkt“ angekündigt wird.
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Catrin Boldebuck und Norris von Schirach
Screenshot: Anton Potche |
Was
könnte wohl besser in die Zeit, in der wir jetzt leben, passen? Da
sitzen sich eine belesene Journalistin und ein weltgewandter
Romanautor gegenüber und unterhalten sich über ein Buch, das von den
Eingeweiden
des Bösen schlechthin erzählt.
Ort der Handlung ist Kasachstan. Aber das wirklich Böse reüssiert
im Nachbarland Russland, in dem der Vorgängerroman dieser
angedachten Romantrilogie verortet ist. Was genau auf Blasse
Helden
und Beutezeit
folgt, ist noch nicht spruchreif. Sicher ist aber, dass das Gespräch
immer wieder aus dem Roman in die Gegenwart hüpfte. Das war gar
nicht unbedingt gewollt und
hat etwas mit dem langen Aufenthalt des Autors in Russland zu tun.
Der Homo Sovjeticus ist ein Homo Corruptus. Das war und ist so. Und
Putin hat damit viel zu tun. „Um das Problem Putin zu erklären
muss man den Dauerkollaps der 90er Jahre berücksichtigen“,
erklärte Norris
von Schirach.
Und
er stellte auch die Frage, die sich heute so viele Politiker und
Normalbürger in diesem Land – ich meine Deutschland – stellen:
„Wieso haben wir dem so vertraut, nur wegen einer Rede im
Bundestag?“
In
den Augen Schirachs ist nicht nur Putin gescheitert, sondern ganz
Russland. Nur will es dort, also im Machtapparat, niemand wahrnehmen.
„Es ist völlig grotesk, wo man Gründe hernimmt, für das eigene
Scheitern“, erzählte er aus seinen eigenen Erlebnissen und
erwähnte auch die schwache Akzeptanz Gorbatschows in
Russland. Und trotzdem war er nach dem Zerfall der Sowjetunion in
diese „graue, wenig attraktive Welt“ gegangen. Das war zum Teil
Abenteuerlust aber, man höre und staune, auch der eigene
„literarische Zugang zu Russland“, genauer gesagt zur russischen
Literatur des 19. Jahrhunderts.
Viel
von dem, was Norris von Schirach im Reich Putins erlebt hat,
ist in seine Romane eingeflossen. Dass sein Hauptheld Anton immer
wieder scheitert, wenn er versucht, ehrlich zu sein, hat etwas mit
dem Chauvinismus der russischen Herrenschicht und der herrschenden
Kleptokratie zu tun. Man wird nun mal von einem Daseinsekel
ergriffen, wenn man in solchen Kreisen herumkommt, sagte Schirach
und versuchte mit einer Frageserie einen solchen Zustand für uns
Westbürger verstehbar zu machen: „Kannst du überhaupt ehrlich
bleiben in so einer Kleptokratie? Wie sollen wir heute leben in
dieser Ausgesetztheit? Was soll das eigentlich sein, Moral, heute,
wenn wir ständig bedroht werden von irgendwelchen Kräften, auf die
wir keinen Einfluss zu haben scheinen? Was ist da, wenn morgen eine
Atombombe über dem Schwarzen Meer gezündet wird, eine sogenannte
taktische, um mal zu zeigen, was möglich ist?“
Für
einige Sekunden riss hier bei mir der Aufmerksamkeitsfaden. Ich sah
mich in einem Kreis Hora tanzender Jugendlicher in Costinești.
(Foto). Das
Mädchen an meiner Seite stammte aus Georgia (USA). Es war Mitglied
eines gemischten Jugendchors, ich war Mitglied einer
Jugendblaskapelle aus Temeswar. Man schrieb
das Jahr 1972. Dann lauschte ich wieder dem
Gespräch. Und der Krieg war so nah. Wie wird es Anton wohl im
letzten Band der Trilogie gehen? Auch Catrin
Boldebuck ist neugierig … sagte sie
zum Schluss des Gesprächs und bat den Autor Norris
von Schirach,
noch schnell ein Foto machen zu dürfen,
bevor er die Bühne verlässt.
Anton Potche
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