Montag, 24. Oktober 2022

Ein Büchertalk von der Frankfurter Buchmesse 2022

Die Zeiten, in denen man die Geschehnisse von der Frankfurter Buchmesse nur über den Fernsehapparat, das Radio oder die Zeitungen und Zeitschriften mitbekam, sind längst vorbei. Via Internet präsentieren verschiedene Aussteller eigene Formate, die mit mehr oder weniger Erfolg versuchen, die Atmosphäre von dem großen Büchertreff in Frankfurt in die Welt zu senden. Die Verlagsgruppe Penguin Random House hat in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift STERN 37 Live-Talks von der Buchmesse gesendet. Journalisten vom STERN unterhielten sich jeweils 30 Minuten lang mit Autoren, deren Bücher in dieser Verlagsgruppe erschienen sind. Man trifft in dem Stundenplan dieser mit „Die 30-Minuten-WG“ betitelten Internet-Sendung durchaus bekannte Namen wie etwa Amelie Fried, Wladimir Kaminer, Charlotte Link oder Richard David Precht.

Auch der Name Schirach ist kein unbekannter. In diesem Social-Media-Format der Verlagsgruppe trat aber nicht Ferdinand Benedikt von Schirach, der im deutschen Sprachraum bestens bekannte Schriftsteller und Jurist, zu einem Gespräch mit der STERN-Journalistin Catrin Boldebuck an, sondern sein älterer Bruder Norris Benedikt von Schirach. Und der ist alles andere als ein uninteressanter Autor.

Schon seine Biografie gibt einiges her. Er wurde 1963 in München als Enkel des ehemaligen Reichsjugendführers der NSDAP Baldur von Schirach (1907 – 1974) geboren und hat an der Universität Konstanz Verwaltungswissenschaften studiert. Er gilt als „Rohstoffexperte und Kupferspezialist“ (Wikipedia) und hat als solcher in den USA, Russland und Kasachstan gearbeitet. Heute lebt er in Bukarest. Und er schreibt Romane. Vor fast auf den Tag genau vier Jahren (21. Oktober 2018) fragte Julia Encke in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG: „Wer ist Arthur Isarin?“ Und in einer sehr lesenswerten Rezension des von Arthur Isarin verfassten Romans Blasse Helden wird der Autor dann wie folgt zitiert: “Ich wollte vor allem unvoreingenommene Leser und Kritiker haben und dachte, dass das nicht gegeben ist, wenn jetzt noch einer von denen schreibt. Das war der wichtigste Grund. Der Benni, also mein Cousin Benedict Wells, der Richard, Ariadne und natürlich mein Bruder Ferdinand – da steht dann nicht mehr das Buch im Vordergrund.“ Also haben wir es auch hier mit einem Schriftsteller aus der Schirach-Familie zu tun. Und er verriet schon damals, dass er bereits an einem zweiten Roman arbeite. Dieser liegt jetzt vor und war Gegenstand des Gesprächs auf der Frankfurter Buchmesse – aber nicht unter Pseudonym. Beutezeit heißt das Buch, das im Programm als „ein beeindruckend aktueller, hochspannender Roman über eine postsowjetische Gesellschaft, die im Sumpf aus Korruption und Terror versinkt“ angekündigt wird.

Catrin Boldebuck und Norris von Schirach
Screenshot: Anton Potche

Was könnte wohl besser in die Zeit, in der wir jetzt leben, passen? Da sitzen sich eine belesene Journalistin und ein weltgewandter Romanautor gegenüber und unterhalten sich über ein Buch, das von den Eingeweiden des Bösen schlechthin erzählt. Ort der Handlung ist Kasachstan. Aber das wirklich Böse reüssiert im Nachbarland Russland, in dem der Vorgängerroman dieser angedachten Romantrilogie verortet ist. Was genau auf Blasse Helden und Beutezeit folgt, ist noch nicht spruchreif. Sicher ist aber, dass das Gespräch immer wieder aus dem Roman in die Gegenwart hüpfte. Das war gar nicht unbedingt gewollt und hat etwas mit dem langen Aufenthalt des Autors in Russland zu tun. Der Homo Sovjeticus ist ein Homo Corruptus. Das war und ist so. Und Putin hat damit viel zu tun. „Um das Problem Putin zu erklären muss man den Dauerkollaps der 90er Jahre berücksichtigen“, erklärte Norris von Schirach. Und er stellte auch die Frage, die sich heute so viele Politiker und Normalbürger in diesem Land – ich meine Deutschland – stellen: „Wieso haben wir dem so vertraut, nur wegen einer Rede im Bundestag?

In den Augen Schirachs ist nicht nur Putin gescheitert, sondern ganz Russland. Nur will es dort, also im Machtapparat, niemand wahrnehmen. „Es ist völlig grotesk, wo man Gründe hernimmt, für das eigene Scheitern“, erzählte er aus seinen eigenen Erlebnissen und erwähnte auch die schwache Akzeptanz Gorbatschows in Russland. Und trotzdem war er nach dem Zerfall der Sowjetunion in diese „graue, wenig attraktive Welt“ gegangen. Das war zum Teil Abenteuerlust aber, man höre und staune, auch der eigene „literarische Zugang zu Russland“, genauer gesagt zur russischen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Viel von dem, was Norris von Schirach im Reich Putins erlebt hat, ist in seine Romane eingeflossen. Dass sein Hauptheld Anton immer wieder scheitert, wenn er versucht, ehrlich zu sein, hat etwas mit dem Chauvinismus der russischen Herrenschicht und der herrschenden Kleptokratie zu tun. Man wird nun mal von einem Daseinsekel ergriffen, wenn man in solchen Kreisen herumkommt, sagte Schirach und versuchte mit einer Frageserie einen solchen Zustand für uns Westbürger verstehbar zu machen: „Kannst du überhaupt ehrlich bleiben in so einer Kleptokratie? Wie sollen wir heute leben in dieser Ausgesetztheit? Was soll das eigentlich sein, Moral, heute, wenn wir ständig bedroht werden von irgendwelchen Kräften, auf die wir keinen Einfluss zu haben scheinen? Was ist da, wenn morgen eine Atombombe über dem Schwarzen Meer gezündet wird, eine sogenannte taktische, um mal zu zeigen, was möglich ist?“

Für einige Sekunden riss hier bei mir der Aufmerksamkeitsfaden. Ich sah mich in einem Kreis Hora tanzender Jugendlicher in Costinești. (Foto). Das Mädchen an meiner Seite stammte aus Georgia (USA). Es war Mitglied eines gemischten Jugendchors, ich war Mitglied einer Jugendblaskapelle aus Temeswar. Man schrieb das Jahr 1972. Dann lauschte ich wieder dem Gespräch. Und der Krieg war so nah. Wie wird es Anton wohl im letzten Band der Trilogie gehen? Auch Catrin Boldebuck ist neugierig … sagte sie zum Schluss des Gesprächs und bat den Autor Norris von Schirach, noch schnell ein Foto machen zu dürfen, bevor er die Bühne verlässt.

Anton Potche

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