Montag, 7. November 2022

Antworten auf viele Fragen

Ana Blandiana: Wozu Dichter in dürftiger Zeit? - Reden und Essays; Edition Noack & Block in der Frank & Timme GmbH, Berlin, 2018; ISBN 978-3-86813-059-1; 163 Seiten, 19,80 EURO.

Die Journalistin Katharina Kilzer und der Politikwissenschaftler Helmut Müller-Enbergs bemühen sich schon seit geraumer Zeit, die rumänische Dichterin und Kämpferin für zivile Rechte, Ana Blandiana, im deutschen Sprachraum bekannt zu machen. Das gelingt natürlich am besten mit Lesungen und besonders nachhaltig mit Publikationen.


Ana Blandiana ist schon wegen ihrer Biografie für den deutschen Leser interessant. Darin widerspiegelt sich nämlich die Geschichte des geteilten Europas, vornehmlich der Ostseite dieses Kontinents. Ihre Laufbahn ist nicht weniger spannend als jene der Schriftsteller aus der DDR. Daher ist es besonders jetzt im Winter, in der Zeit der Gedenktage an den Fall der Mauer und den Fall der kommunistischen Diktaturen in Europa, nicht verkehrt, ein Buch von Ana Blandiana zu lesen.

„Dichter“ steht zwar im Buchtitel, aber sein/ihr poetisches Werk ist mitnichten zwischen diesen Buchdeckeln präsent. Die Herausgeber haben „Reden und Essays“ von Ana Blandiana gesammelt und dem deutschen Leser zugänglich gemacht. Die Übersetzerarbeit leisteten Maria Herlo und Katharina Kilzer. 

Was eine Dichterin uns in ihren Gedichten sagen will, ist nicht immer nachvollziehbar. Das liegt im Wesen der Poesie. Daher öffnet man ein Buch wie dieses mit konkreten Erwartungen. In Reden und Essays outet die „Poetin“ sich als Bürgerin, als Teil einer Gesellschaft, eines Volkes und deren/dessen Geschichte. Wenn man, wie bei Ana Blandiana geschehen, ein Gedicht schreibt, das wegen Veröffentlichungsverbot auf losen Blättern durchs Land reist und dabei immer länger wird, dann ist man nolens volens selber Geschichte geworden. Lebende Geschichte. Sprechende Geschichte. Hans Bergel schreibt im Vorwort dieses Buches von „der kühlen Konsequenz ihrer Gedankenreihungen in den theoretischen Schriften: der hochgradigen Intellektualität, der genauen Ideenkonturierungen, der hellwachen Unbestechlichkeit“.

Es ist spannend, zu erfahren, wie eine Dichterin ihre Bezüge zu der Gesellschaft, in der sie lebt oder die sie bereits überlebt hat, in epischen Formulierungen ausdrückt. Da wäre einmal ihr ganz persönliches Verhältnis zur Macht. Und ich glaube, Ana Blandiana pauschalisiert zu Recht, wenn sie in ihrer Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die West-Universität in Temeswar am 6. Dezember 2014 sagt: „Die Fragestellung der Beziehung zwischen Schriftsteller und Macht gab es überall und zu allen Zeiten. In einem freiheitlichen Rechtsstaat ist sie selbstverständlich weniger wichtig als im totalitären System.“ Klar und deutlich formuliert. Für alle, Zuhörer und Leser, nachvollziehbar … um dann zum Schluss doch einen Schleier von Leichtgläubigkeit über unsere Realität sinken zu lassen: „Die Dichter sind die, die in einer vom Bösen und Hässlichen beherrschten Welt das Feuer des Guten und Schönen am Brennen und Leuchten halten – indem sie mit Poesie eine Aura der Liebe schaffen und ein magisches Schutzschild gegen den Hass aufstellen.“ Könnte das gelingen, wäre es fast zu schön, um wahr zu sein. Aber klar, das ist Ana Blandiana, wie sie leibt und lebt, in Versen und Sätzen: eine große Dichterin. Aber auch ein Mensch, der sich nicht scheut, seine Ängste vor erlesenem Publikum in einer Aula Magna zu äußern. Wie etwa am 24. März 2016 an der Babeș-Bolyai-Universität in Klausenburg / Cluj-Napoca: „Wenn die europäische Ordnung einmal niedergewalzt ist von Millionen von Migranten, so wird das dazu führen, dass die Freiheit Europas eine gefährliche Form ohne Inhalt bleibt.“ Uff! In Deutschland denkt man so etwas, aber man sagt es nicht.


Und warum tut sie, Ana Blandiana, das? Ihren Zuhörern an der Donau-Universität Galatz / Galați hat sie es im Juni 2016 erklärt: „Vor dem 22. Dezember 1989 war ich eine Schriftstellerin mit 19 veröffentlichten Büchern, zwei weiteren in der Schublade, drei Schreibverboten und einer einzigen Obsession: zu schreiben, was ich dachte, und zu veröffentlichen, was ich schrieb.“ Okay! Jetzt ist es geschehen. Also alles gut, wie die neueste deutsche Redewendung es ausdrückt.

Ana Blandianas Essays sind eben so reich in Form und Inhalt wie ihre Reden … und direkt, ihrer Wahrheit, ihrer Sicht auf die Dinge geschuldet. Die Titel verraten die Vielfalt ihrer erörterten Themen: Ein anderes Volk – oder: Was sich in Rumänien geändert hat, Zwischen Gut und Böse, Die Nachwelt oder das Vertrauen in die Zeit, Das Gedicht zwischen Schweigen und Sünde usw.

Sich Gedanken machen, analysieren, und immer wieder hinschauen, auf unser Umfeld, aber auch hineinschauen in uns selber. Das Resultat kann Poesie sein. Das ist es bei Ana Blandiana: Gedichte, die in anderen Büchern stehen und leider allzu oft nur in Rumänisch zugänglich sind. Zumindest dieser Holperstein bleibt den deutschen Lesern des vorliegenden Buches erspart. Eine flüssige, gediegene und Aufrichtigkeit ausstrahlende Sprache – auch dank einer ansprechenden Übersetzung – führt in den poetischen und zeitkritischen Kosmos einer rumänischen Dichterin ein. Einige behaupten, sie wäre die größte. Alexandru Oravițan hat im Februar 2018 Ana Blandianas Essay-Band Istoria ca viitor (Die Geschichte als Zukunft), Humanitas, Bukarest, 2017, in der Temeswarer Literaturzeitschrift ORIZONT besprochen und sich gleich zu Beginn seiner Rezension festgelegt: „Die hier versammelten Texte sind von der Kadenz der Phrase geprägt und von dem direkten Stil, der Ana Blandiana zu einer der emblematischsten Figuren des rumänischen Schrifttums aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht hat.“ Also haben wir es hier mit einer bedeutenden Literatin im weitesten Sinne des Wortes zu tun.


Anton Potche

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