Montag, 16. Oktober 2023

Arbeitsbedingungen auf dem Weg zum Wohlstand

Günter Wallraff: Industriereportagen – Als Arbeiter in deutschen Großbetrieben; Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, März 1970; ISBN 3-499-16723-9; 118 Seiten (erhältlich bei diversen Online-Händlern).

In Autorenlexikons findet man den Namen Günter Wallraff (*1942) oft vor dem Namen Martin Walser (1927 – 2023) und nach Dieter Waldmann (1926 – 1971). Natürlich ist das Zufall. Aber man kann sich dazu trotzdem Schlüsse zusammenbasteln. Um nur zwei zu nennen: 1.) Bezogen auf Martin Walser hat auch Günter Wallraff den Autorenstatus längst erlangt; und 2.) bezogen auf Dieter Waldmann zeigt sich, dass aus Handwerkerschreibfedern durchaus auch literarische Arbeiten entstehen können.

Bleibt noch die Frage: Sind Reportagen überhaupt Literatur? Und besonders: Industriereportagen. Vielleicht ist das eine Frage, die jeder Leser für sich, auf seine eigene Art und Weise nach ganz individuellem Lesegeschmack beantworten muss. Mir fielen (komischer Weise) Geo Bogzas (1908 – 1993) Reportagen aus einem deutschsprachigen Schulbuch (7. oder 8. Klasse) aus dem kommunistischen Rumänien ein. Auch das waren Texte über die Arbeit, sozialistische Arbeit. Sie waren im Stil und vor allem im Sinne des sozialistischen Realismus geschrieben. Und sie hatten einen Ansprechpartner (oder eine Zielscheibe): den sozialistischen Arbeiter – ein rundum glücklicher Werktätiger.

Das sieht bei Günter Wallraffs Textsammlung mit fünf Industriereportagen, verfasst Als Arbeiter in deutschen Großbetrieben (Untertitel) etwas anders aus. Seine Reportagen unterliegen keinem ideologisch verbrämten Hintersinn, sondern sind als gesellschaftskritische Prosastücke einer freien (aber nicht ganz ideologielosen) kapitalistischen Gesellschaft angelegt. Und sie kommen oder kamen damals bei ihrem Erscheinen in einer alles dem Gewinn untergeordneten Gesellschaftsordnung gut an. Das rororo-Büchlein wurde von März 1970 bis April 1971 immerhin sechsmal in insgesamt 95 Tausend Exemplaren aufgelegt. (Originalausgabe Wir brauchen Dich, 1966).

Günter Wallraff schreibt in einem flotten Stil, ohne sich lange beim philosophischen Warum aufzuhalten, über die Arbeitswelt, Am Fließband, Auf der Werft, Im Akkord, Im Stahlrohrwerk und Sinter – zwoo – im Stahlwerk (der längste Text). Ich habe als ehemaliger Schichtarbeiter die Reportagen Günter Wallraffs regelrecht mit den Augen verschlungen. So manches kam mir bekannt vor. Ein anderes Mal wurde mir klar, wie gut es war, in einem Betrieb (in Deutschland) arbeiten zu dürfen, in dem eine starke Gewerkschaft ihre schützende Hand über die Belegschaft hielt – wenn auch nicht von jedermann wahrnehmbar.

Als dieses Büchlein 1970 bei Rowohlt erschien, war ich in der Ausbildung zum Textilmaschinenmechaniker in Geo Bogzas Arbeitswelt – in Temeswar / Rumänien. Dabei kam ich in mehreren Betrieben als Praktikant herum - auch Schwerindustrie war dabei - und erinnere mich heute noch, dass mir Zustände wie in den Reportagen Wallraffs - der hat wirklich fast überall gearbeitet - dort nicht vor Augen kamen. Es ging wahrlich gesitteter zu. (Man musste auch seine Kräfte sparen, um in den Lebensmittelschlangen seinen Mann zu stehen.)

Die Arbeitsbedingungen in der prosperierenden Bundesrepublik der 1950er, ʼ60er und ʼ70er Jahre war wohl der Preis für den gesellschaftlichen Wohlstand außerhalb der Betriebszäune. Und in den Ostblockstaaten war es genau umgekehrt. Der (vielleicht!) etwas geringere Stress in den Fabriken mit ihrer entsprechend lahmen Produktivität, spiegelte sich in einem geringeren Wohlstand der Gesellschaft.

Geo Bogza war ein regimetreuer (das hieß im Sozialismus unternehmerfreundlicher) Autor, während Günter Wallraff ein system- und unternehmenskritischer Journalist und Schriftsteller ist. Ja, er war und ist mit seinen Texten auch Literat. In einem Lexikon fand ich dazu in seiner Vita folgenden Satz: „Der Reporter Wallraff ist national wie international neben Max von der Grün die Identifikationsfigur der bundesrepublikanischen Arbeiterliteratur.“ [Manfred Brauneck (Hg.): Autorenlexikon der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts].

Dass Reportagen aber viel mehr als gute Arbeiterliteratur sind, beweisen Geo Bogzas „literarische Reportagen“ (besonders die vor seiner sozialistischen Zeit) wie auch ihre Rezeption in Kritikerkreisen. Mihai Lisei plädiert im Schlusssatz eines Essays über Geo Bogza și reportajul literar (Geo Bogza und die literarische Reportage) so: „Also erkennen wir Bogza zu, was Bogza gehört, und der Reportage die literarischen Valenzen.“ Das gilt auch für einen Günter Wallraff, den man mit seinen Texten zu den „Erforschern des direkten Ereignisses“ (Ion Vlad), die da Egon Erwin Kisch oder Curzio Malaparte wären, zählen darf.
Anton Potche

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