Günter Wallraff:
Industriereportagen – Als Arbeiter in deutschen Großbetrieben;
Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, März 1970;
ISBN 3-499-16723-9; 118 Seiten (erhältlich bei diversen
Online-Händlern).
In Autorenlexikons findet man den
Namen Günter Wallraff (*1942) oft vor dem Namen Martin
Walser (1927 – 2023) und nach Dieter Waldmann
(1926 – 1971). Natürlich ist das Zufall. Aber man kann sich dazu
trotzdem Schlüsse zusammenbasteln. Um nur zwei zu nennen: 1.)
Bezogen auf Martin Walser hat auch Günter Wallraff
den Autorenstatus längst erlangt; und 2.) bezogen auf Dieter
Waldmann zeigt sich, dass aus
Handwerkerschreibfedern durchaus auch literarische Arbeiten entstehen
können.
Bleibt noch die Frage: Sind
Reportagen überhaupt Literatur? Und besonders: Industriereportagen.
Vielleicht ist das eine Frage, die jeder Leser für sich, auf seine
eigene Art und Weise nach ganz individuellem Lesegeschmack
beantworten muss. Mir fielen (komischer Weise) Geo Bogzas
(1908 – 1993) Reportagen aus einem deutschsprachigen Schulbuch (7.
oder 8. Klasse) aus dem kommunistischen Rumänien ein. Auch das waren
Texte über die Arbeit, sozialistische Arbeit. Sie waren im Stil und
vor allem im Sinne des sozialistischen Realismus geschrieben. Und sie
hatten einen Ansprechpartner (oder eine Zielscheibe): den
sozialistischen Arbeiter – ein rundum glücklicher Werktätiger.
Das sieht bei Günter Wallraffs
Textsammlung mit fünf Industriereportagen, verfasst Als
Arbeiter in deutschen Großbetrieben (Untertitel) etwas anders
aus. Seine Reportagen unterliegen keinem ideologisch verbrämten
Hintersinn, sondern sind als gesellschaftskritische Prosastücke
einer freien (aber nicht ganz ideologielosen) kapitalistischen
Gesellschaft angelegt. Und sie kommen oder kamen damals bei ihrem
Erscheinen in einer alles dem Gewinn untergeordneten
Gesellschaftsordnung gut an. Das rororo-Büchlein wurde von März
1970 bis April 1971 immerhin sechsmal in insgesamt 95 Tausend
Exemplaren aufgelegt. (Originalausgabe Wir brauchen Dich,
1966).
Günter Wallraff schreibt in
einem flotten Stil, ohne sich lange beim philosophischen Warum
aufzuhalten, über die Arbeitswelt,
Am Fließband, Auf der Werft, Im Akkord, Im
Stahlrohrwerk und Sinter – zwoo – im Stahlwerk (der
längste Text). Ich habe als ehemaliger Schichtarbeiter die
Reportagen Günter Wallraffs regelrecht mit den Augen
verschlungen. So manches kam mir bekannt vor. Ein anderes Mal wurde
mir klar, wie gut es war, in einem Betrieb (in Deutschland) arbeiten zu dürfen, in
dem eine starke Gewerkschaft ihre schützende Hand über die
Belegschaft hielt – wenn auch nicht von jedermann wahrnehmbar.
Als dieses Büchlein 1970 bei
Rowohlt erschien, war ich in der Ausbildung zum
Textilmaschinenmechaniker in Geo Bogzas Arbeitswelt – in
Temeswar / Rumänien. Dabei kam ich in mehreren Betrieben als
Praktikant herum - auch Schwerindustrie war dabei - und erinnere mich
heute noch, dass mir Zustände wie in den Reportagen Wallraffs - der hat wirklich fast überall gearbeitet - dort nicht vor Augen kamen. Es
ging wahrlich gesitteter zu. (Man musste auch seine Kräfte sparen,
um in den Lebensmittelschlangen seinen Mann zu stehen.)
Die Arbeitsbedingungen in der
prosperierenden Bundesrepublik der 1950er, ʼ60er
und ʼ70er Jahre war wohl
der Preis für den gesellschaftlichen Wohlstand außerhalb der
Betriebszäune. Und in den Ostblockstaaten war es genau umgekehrt.
Der (vielleicht!) etwas geringere Stress in den Fabriken mit ihrer
entsprechend lahmen Produktivität, spiegelte sich in einem
geringeren Wohlstand der Gesellschaft.
Geo Bogza war ein
regimetreuer (das hieß im Sozialismus unternehmerfreundlicher)
Autor, während Günter Wallraff ein system- und
unternehmenskritischer Journalist und Schriftsteller ist. Ja, er war
und ist mit seinen Texten auch Literat. In einem Lexikon fand ich
dazu in seiner Vita folgenden Satz: „Der Reporter Wallraff ist
national wie international neben Max von der Grün die
Identifikationsfigur der bundesrepublikanischen Arbeiterliteratur.“
[Manfred Brauneck (Hg.): Autorenlexikon der deutschsprachigen
Literatur des 20. Jahrhunderts].
Dass Reportagen aber viel mehr als
gute Arbeiterliteratur sind, beweisen Geo Bogzas „literarische
Reportagen“ (besonders die vor seiner sozialistischen Zeit) wie
auch ihre Rezeption in Kritikerkreisen. Mihai Lisei plädiert
im Schlusssatz eines Essays über Geo Bogza
și reportajul literar (Geo Bogza und die literarische
Reportage) so: „Also erkennen wir Bogza zu, was Bogza gehört,
und der Reportage die literarischen Valenzen.“ Das gilt auch für
einen Günter Wallraff, den man mit seinen Texten zu den
„Erforschern des direkten Ereignisses“ (Ion Vlad), die da
Egon Erwin Kisch oder Curzio Malaparte wären, zählen
darf.
Anton Potche
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