Es war in den 70er Jahren des
letzten Jahrhunderts. Meine Frau erinnert sich noch genau an jene
Episode im Banater Dorf Jahrmarkt, noch konkreter, an jenen Besuch
der befreundeten Familie Schlesier aus Zwickau. Wir waren
systemverwandt: sie Bürger der DDR
(Deutsche Demokratische Republik) und wir Bürger der SRR
(Sozialistische Republik Rumänien). Und
doch … es war keine tiefe Bruderfreundschaft. Honecker war
drüben an der Macht und Ceaușescu hüben. Das wäre bei
gleichen oder ähnlichen Staatsapparaten eigentlich kaum der Rede
wert gewesen, wenn … ja wenn Letzterer nicht an einem schrecklichen
Größen- und Verfolgungswahn gelitten hätte. Das hatte zur Folge,
dass ausländische Besucher nicht mehr bei befreundeten Familien
übernachten durften, sondern nur in Hotels, wo man glaubte, sie
besser bespitzeln zu können. Irgendwann war der Spuck dann weg.
Mehr als hundert Jahre vorher
spielten sich in Ungarn ähnlich paranoide Geschichten ab. Jahrmarkt
gehörte damals zu Ungarn und hieß Gyarmatha. In Temesvar, das w kam
später in den Namen der Banater Bezirkshauptstadt, residierten alle
wichtigen Ämter. Von überall her kamen Menschen mit ihren Problemen
in diese Stadt. Und übernachteten dort. Wo genau, ist heute in alten
Zeitungen noch nachzulesen. So zum Beispiel veröffentlichte die
TEMESVARER ZEITUNG regelmäßig die Rubrik Fremdenliste,
worin alle auswärtigen Gäste, die in der Stadt übernachtet hatten,
sauber aufgelistet waren. Sogar Gäste in Privatwohnungen mussten
gemeldet werden.
Hundert
Jahre später hatte mein Schwiegervater es aber versäumt, seine
Gäste aus der DDR anzumelden, was ihm die Ehre eines Besuchs von
Polizeichef Cură
eingebracht hat.
Und die DDR-ler
verbrachten ihre Nächte in einem Temeswarer Hotel. Natürlich gut
behütet. Nur dass ihre Namen
nicht in der Lokalpresse erschienen wie zu Zeiten der Magyaren. Ihre
Schicksalsgenossen aus dem 19. Jahrhundert haben aber dank dieser
Fremdenlisten bis
heute namentlich überlebt.
Schon 1852 wurden in der TEMESVARER
ZEITUNG Übernachtungen von Menschen aus Gyarmatha in Temesvar
verzeichnet. Unserem (also meinem) Voyeurismus sind trotzdem Grenzen
gesetzt, denn über die Gründe der Übernachtungen wird nicht
berichtet. Andererseits genießt unsere (also meine) Fantasie
großzügigen Freilauf, auch wenn es sich bestimmt nicht immer um
amouröse Geschichten handeln könnte.
1852
blieben vier Gyarmathaer
über Nacht in Temesvar: Emerich
von Balya, Gutsbesitzer,
im Gasthaus zum gold. Hirsch (zweimal);
Herr
Franz Sternhard,
Geschäftsleiter, im
Hotel (oder
Gasthaus) Zur neuen Welt;
und J. Guraly,
Privatier, im Hotel Zum Trompeter.
Im
Februar 1856 übernachtete der Arzt Stern
aus Gyarmatha in einem Temesvarer Privatquartier.
Baron
v. Ambrozy, Gutsbesitzer
von Gyarmatha, wird in einer Fremdenliste
aus dem Jahre 1860 genannt. Er hat am 21. April im Zum
goldenen Hirschen
übernachtet. Am 24. August hat ein weiterer Gutsbesitzer von
Gyarmatha im gleichen Hotel gastiert: Baron
von Radossovits. Am 26.
November hat Karl Baron
von Ambrozy eine Nacht im
Zu den sieben Kurfürsten zu
Temesvar verbracht –
schlafend, nehme ich an.
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TEMESVARER ZEITUNG, 9. März 1863
Screenshot: Anton Potche |
Man
schrieb den 17. März 1863 als Baron
Georg von Ambrozy,
Gutsbesitzer, im Zum goldenen Hirschen
„In der inneren Stadt“ eine Nacht verbracht hat. „In
der Vorstadt Fabrik“ hatte sich Salamon
Deutsch, Productenhändler
aus Gyarmatha, im Zum kleinen Casino
am 21. Juli des gleichen Jahres eingemietet.
Im
folgenden Jahr findet man nur eine Fremdenliste
mit einem Gyarmathaer Eintrag. Am 15. Dezember verbrachte Baron v.
Ambrozy die Nacht im Zum
gold. Hirschen. Dann war
einige Jahre Schluss mit diesen ominösen Listen.
Aber
18 Jahre später waren sie wieder da in der TEMESVARER ZEITUNG, und
damit auch Gyarmathaer Bürger – wahrscheinlich meistens
gutbetuchte. Am 24. Januar 1882 eröffnete M.
v. Baich, Hußaren=Lieutenant aus Gyarmatha, den Reigen von Übernachtungen
Gyarmathaer in Temesvarer Unterkünften. Er hatte im Hotel goldener
Hirsch eine
Übernachtungsmöglichkeit gefunden. Bis zum 30. Dezember, als Br.
Ambrósi als
Gast im Hotel goldener Hirsch in
der Fremden-Liste der
Zeitung genannt wird, tauchen
Bürger aus Gyarmatha in weiteren 26 Ausgaben dieser Zeitung auf:
J. Augenfeld,
Gutsbesitzer, (7 mal); Baron Bela
Ambrozy (6); Vogl
Wilma, Gutsbesitzerin,
(4); Salamon
Löwy,
Oekonom, (2); sowie je einmal M.
v. Baich; C.
Kuzmanovits, Lehrerin;
Dr. Deutsch,
Bezirksarzt; Szacsvay,
k. k. Hußaren=Lieutenant; W.
Kafka, Hußarenlieutenant;
P. Kamergießer,
Vice-Notär; W. Hoffbauer,
Apotheker; Adolf
Friedmann, Kaufmann; K.
Rosenthal,
Oberlieutenant; Graf
Rumeskirchen, k. k.
Hußaren=Oberlieutenant; Szkonty,
k. k. Rittmeister; S.
Vißkelety, Notär.
Auch
im Jahre 1883 kann man in den Fremdenlisten
Namen von Menschen mit Gyarmathaer Wohnsitz finden. In 21 Listen
treffen wir auf altbekannte Namen wie auch auf bisher unbekannte wie
etwa: Frau von Vißkelety,
Notärsgattin; R. Vogl,
Student; Rech,
Kfms=Gattin; Bratanov,
Lehrer; Schwarz,
Gutspächter; Lock,
Apotheker.
Diese
Fremdenlisten waren
keine Temesvarer Spezialität. Am 19. Juni 1883 veröffentlichte die
TEMESVARER ZEITUNg zum Beispiel die Kurliste Nr. 2 des
Badeortes Buziás. Da findet man
auch den Eintrag „Graf Zdenko
Rumeskirch, k. k.
Oberlieutenant aus Gyarmatha“.
Aber
wir Jahrmarkter, als
Nachkommen der Gyarmathaer,
haben mit diesen Fremdenlisten
aus dem 19. Jahrhundert sowieso nichts zu tun, denn fast alle Namen,
die darin als Bürger aus Gyarmatha auftauchen, sind in den drei
Bänden des Ortssippenbuches der katholischen Pfarrgemeinde
Jahrmarkt / Banat und ihrer Pfarrfilialen, 1730 – 2007 von
Franz Junginger
nicht aufzufinden; sie haben
also nur vorübergehend in diesem Dorf gewohnt.
Einige Ausnahmen bestätigen allerdings auch diese Regel: Ambrozy,
Sternhard,
Stern,
Bratanov oder
Schwarz.
Aber auch das sind nur Namensgleichheiten,
die nichts mit den entsprechenden Namensträgern im Ortssippenbuch zu
tun haben. (Die
Schreibweise der Namen von Personen und Lokalen habe ich unverändert
aus der jeweiligen TEMESVARER ZEITUNG übernommen.)
Ab
1883 wurde die Veröffentlichung dieser Listen dann eingestellt. Dass
sie zum Ausspionieren von Hotel- und Kurgästen dienten, ist
nachvollziehbar, gab es doch immer wieder Regime, die sich dieser
Informationen bedienten, um die eigenen und fremden Bürger zu
kontrollieren. Sowohl die Jahre
der Magyarisierung im 19. Jahrhundert als auch jene des Kommunismus
im 20. Jahrhundert waren solche Zeiten. Sicher
ist lediglich, dass man den heute so gerne in die Waagschale
geworfenen Datenschutz (du
willst alles von anderen, aber andere sollen nichts von dir wissen)
damals noch
nicht kannte.
Anton Potche
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