Montag, 13. November 2023

Fremdenlisten einsehbar für alle

Es war in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Meine Frau erinnert sich noch genau an jene Episode im Banater Dorf Jahrmarkt, noch konkreter, an jenen Besuch der befreundeten Familie Schlesier aus Zwickau. Wir waren systemverwandt: sie Bürger der DDR (Deutsche Demokratische Republik) und wir Bürger der SRR (Sozialistische Republik Rumänien). Und doch … es war keine tiefe Bruderfreundschaft. Honecker war drüben an der Macht und Ceaușescu hüben. Das wäre bei gleichen oder ähnlichen Staatsapparaten eigentlich kaum der Rede wert gewesen, wenn … ja wenn Letzterer nicht an einem schrecklichen Größen- und Verfolgungswahn gelitten hätte. Das hatte zur Folge, dass ausländische Besucher nicht mehr bei befreundeten Familien übernachten durften, sondern nur in Hotels, wo man glaubte, sie besser bespitzeln zu können. Irgendwann war der Spuck dann weg.

Mehr als hundert Jahre vorher spielten sich in Ungarn ähnlich paranoide Geschichten ab. Jahrmarkt gehörte damals zu Ungarn und hieß Gyarmatha. In Temesvar, das w kam später in den Namen der Banater Bezirkshauptstadt, residierten alle wichtigen Ämter. Von überall her kamen Menschen mit ihren Problemen in diese Stadt. Und übernachteten dort. Wo genau, ist heute in alten Zeitungen noch nachzulesen. So zum Beispiel veröffentlichte die TEMESVARER ZEITUNG regelmäßig die Rubrik Fremdenliste, worin alle auswärtigen Gäste, die in der Stadt übernachtet hatten, sauber aufgelistet waren. Sogar Gäste in Privatwohnungen mussten gemeldet werden.

Hundert Jahre später hatte mein Schwiegervater es aber versäumt, seine Gäste aus der DDR anzumelden, was ihm die Ehre eines Besuchs von Polizeichef Cură eingebracht hat. Und die DDR-ler verbrachten ihre Nächte in einem Temeswarer Hotel. Natürlich gut behütet. Nur dass ihre Namen nicht in der Lokalpresse erschienen wie zu Zeiten der Magyaren. Ihre Schicksalsgenossen aus dem 19. Jahrhundert haben aber dank dieser Fremdenlisten bis heute namentlich überlebt.

Schon 1852 wurden in der TEMESVARER ZEITUNG Übernachtungen von Menschen aus Gyarmatha in Temesvar verzeichnet. Unserem (also meinem) Voyeurismus sind trotzdem Grenzen gesetzt, denn über die Gründe der Übernachtungen wird nicht berichtet. Andererseits genießt unsere (also meine) Fantasie großzügigen Freilauf, auch wenn es sich bestimmt nicht immer um amouröse Geschichten handeln könnte.

1852 blieben vier Gyarmathaer über Nacht in Temesvar: Emerich von Balya, Gutsbesitzer, im Gasthaus zum gold. Hirsch (zweimal); Herr Franz Sternhard, Geschäftsleiter, im Hotel (oder Gasthaus) Zur neuen Welt; und J. Guraly, Privatier, im Hotel Zum Trompeter.

Im Februar 1856 übernachtete der Arzt Stern aus Gyarmatha in einem Temesvarer Privatquartier.

Baron v. Ambrozy, Gutsbesitzer von Gyarmatha, wird in einer Fremdenliste aus dem Jahre 1860 genannt. Er hat am 21. April im Zum goldenen Hirschen übernachtet. Am 24. August hat ein weiterer Gutsbesitzer von Gyarmatha im gleichen Hotel gastiert: Baron von Radossovits. Am 26. November hat Karl Baron von Ambrozy eine Nacht im Zu den sieben Kurfürsten zu Temesvar verbracht – schlafend, nehme ich an.

TEMESVARER ZEITUNG,
9. März 1863

Screenshot: Anton Potche
Man schrieb den 17. März 1863 als Baron Georg von Ambrozy, Gutsbesitzer, im Zum goldenen Hirschen „In der inneren Stadt“ eine Nacht verbracht hat. „In der Vorstadt Fabrik“ hatte sich Salamon Deutsch, Productenhändler aus Gyarmatha, im Zum kleinen Casino am 21. Juli des gleichen Jahres eingemietet.

Im folgenden Jahr findet man nur eine Fremdenliste mit einem Gyarmathaer Eintrag. Am 15. Dezember verbrachte Baron v. Ambrozy die Nacht im Zum gold. Hirschen. Dann war einige Jahre Schluss mit diesen ominösen Listen.

Aber 18 Jahre später waren sie wieder da in der TEMESVARER ZEITUNG, und damit auch Gyarmathaer Bürger – wahrscheinlich meistens gutbetuchte. Am 24. Januar 1882 eröffnete M. v. Baich, Hußaren=Lieutenant aus Gyarmatha, den Reigen von Übernachtungen Gyarmathaer in Temesvarer Unterkünften. Er hatte im Hotel goldener Hirsch eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden. Bis zum 30. Dezember, als Br. Ambrósi als Gast im Hotel goldener Hirsch in der Fremden-Liste der Zeitung genannt wird, tauchen Bürger aus Gyarmatha in weiteren 26 Ausgaben dieser Zeitung auf: J. Augenfeld, Gutsbesitzer, (7 mal); Baron Bela Ambrozy (6); Vogl Wilma, Gutsbesitzerin, (4); Salamon Löwy, Oekonom, (2); sowie je einmal M. v. Baich; C. Kuzmanovits, Lehrerin; Dr. Deutsch, Bezirksarzt; Szacsvay, k. k. Hußaren=Lieutenant; W. Kafka, Hußarenlieutenant; P. Kamergießer, Vice-Notär; W. Hoffbauer, Apotheker; Adolf Friedmann, Kaufmann; K. Rosenthal, Oberlieutenant; Graf Rumeskirchen, k. k. Hußaren=Oberlieutenant; Szkonty, k. k. Rittmeister; S. Vißkelety, Notär.

Auch im Jahre 1883 kann man in den Fremdenlisten Namen von Menschen mit Gyarmathaer Wohnsitz finden. In 21 Listen treffen wir auf altbekannte Namen wie auch auf bisher unbekannte wie etwa: Frau von Vißkelety, Notärsgattin; R. Vogl, Student; Rech, Kfms=Gattin; Bratanov, Lehrer; Schwarz, Gutspächter; Lock, Apotheker. 

Diese Fremdenlisten waren keine Temesvarer Spezialität. Am 19. Juni 1883 veröffentlichte die TEMESVARER ZEITUNg zum Beispiel die Kurliste Nr. 2 des Badeortes Buziás. Da findet man auch den Eintrag „Graf Zdenko Rumeskirch, k. k. Oberlieutenant aus Gyarmatha“.

Aber wir Jahrmarkter, als Nachkommen der Gyarmathaer, haben mit diesen Fremdenlisten aus dem 19. Jahrhundert sowieso nichts zu tun, denn fast alle Namen, die darin als Bürger aus Gyarmatha auftauchen, sind in den drei Bänden des Ortssippenbuches der katholischen Pfarrgemeinde Jahrmarkt / Banat und ihrer Pfarrfilialen, 1730 – 2007 von Franz Junginger nicht aufzufinden; sie haben also nur vorübergehend in diesem Dorf gewohnt. Einige Ausnahmen bestätigen allerdings auch diese Regel: Ambrozy, Sternhard, Stern, Bratanov oder Schwarz. Aber auch das sind nur Namensgleichheiten, die nichts mit den entsprechenden Namensträgern im Ortssippenbuch zu tun haben. (Die Schreibweise der Namen von Personen und Lokalen habe ich unverändert aus der jeweiligen TEMESVARER ZEITUNG übernommen.)


Ab 1883 wurde die Veröffentlichung dieser Listen dann eingestellt. Dass sie zum Ausspionieren von Hotel- und Kurgästen dienten, ist nachvollziehbar, gab es doch immer wieder Regime, die sich dieser Informationen bedienten, um die eigenen und fremden Bürger zu kontrollieren. Sowohl die Jahre der Magyarisierung im 19. Jahrhundert als auch jene des Kommunismus im 20. Jahrhundert waren solche Zeiten. Sicher ist lediglich, dass man den heute so gerne in die Waagschale geworfenen Datenschutz (du willst alles von anderen, aber andere sollen nichts von dir wissen) damals noch nicht kannte.

Anton Potche

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