Montag, 11. Dezember 2023

Noch nicht vergessen

Podcasts wohin man hört und schaut. Die Menschen unterhalten sich über Gott und die Welt – auch über Bücher. Also liegt es nahe, dass auch und vielleicht sogar besonders Bibliotheken und Buchhandlungen Podcasts für ihre Kunden einrichten – Literaturpodcasts. Zum Beispiel Hugendubel. Die Buchhandlungskette nennt ihre Podcast-Serie Seite an Seite. Und Nina und Maximilian Hugendubel geben zum Start dieses neuen Mediums auf ihrer Firmen-Homepage einiges von ihrer Liebe zu Büchern frei, gewähren aber auch Einblicke in eine Buchhändler-Familie. Wer könnte das wohl besser als die beiden Geschäftsführer. Wir reden bei Podcasts aber beileibe nicht von einem deutschen Phänomen. Nein, wir haben es mit einer weltumspannenden Mode zu tun.

Auch Rumänien gehört dazu. Zum Beispiel Temeswar, heuer als Kulturhauptstadt Europas gefeiert. Und Kultur ohne Literatur? Nein, das geht nicht. La Două Bufnițe heißt eine beliebte Buchhandlung in Temeswar. Deutsch Zu zwei Eulen (oder Uhue). Da hält doch jemand Ausschau mit großen runden Augen. Nach wem oder was wohl? Klar, nach Autoren und ihren Büchern. Ich habe kürzlich dort vorbeigeschaut – online. Die Facebook-Seite dieser Buchhandlung beinhaltet zwar keine eigene Podcast-Produktionen, wird aber von anderen Podcastern gerne als Plattform benutzt. Etwa von Dr. Cezar Gheorghe, der für seine Interviews und Gespräche durchs ganze Land reist. Sein Podcast-Format nennt sich Romanian Literature Now – Podcastul Narativ Live.

Am 14. November weilte er mit seiner „Literatursendung“ - so kann man diesen Podcast getrost nennen – um 12 Uhr in der Bücherei La Două Bufnițe. Seine Gesprächspartnerin war Adriana Babeți (*1949), Literaturkritikerin, Autorin von Kurzprosa und Essays. Sie unterrichtet Vergleichende Literatur (literatură comparată) an der Westuniversität Temeswar. Dr. Cezar Gheorghe (*1984) ist Lektor an der Nationalen Universität für Theater- und Filmkunst „I. L. Caragiale“ (Universitatea de Artă Teatrală și Cinematografică „I. L. Caragiale”) sowie Film- und Literaturkritiker. Keine Frage, da begegneten sich zwei Schwergewichte der rumänischen Literaturszene. Und was sie sich vorgenommen hatten zu diskutieren, war nicht minder schwergewichtig: Dicționarul romanului central european din secolul XX. Es handelt sich immerhin um Bio- und Bibliographien von 197 Autoren und Autorinnen, die ihre Werke in 14 Sprachen verfasst haben, und um sage und schreibe 256 analysierte Romane.

Das 2022 erschienene Lexikon des zentraleuropäischen Romans des 20. Jahrhunderts wurde von Adriana Babeți zusammengestellt und hat wie jedes Lexikon viele Autoren. Und es bleibt wie ebenfalls alle Sammelwerke unvollständig. Umso interessanter ist es dann, in dem Schinken (160 x 235 cm, 760 Seiten, ohne Gewichtsangabe, erschienen bei Polirom) zu schmökern, um herauszufinden, wer es bei einem selbst gelegten Kriterium in das Nachschlagwerk geschafft hat. Mein Kriterium ist rein abstammungsbezogen und sucht nur nach den Romanautoren deutscher Sprache aus Rumänien (dem heutigen und ehemaligen). Wen hat Frau Adriana Babeți und ihr Autorenteam für lexikonreif gefunden? Es sind das aus Siebenbürgen Adolf Meschendörfer und Eginald Schlattner, aus dem Banat Herta Müller, Adam Müller-Guttenbrunn und Richard Wagner, sowie Elie Wiesel, geboren in Sighetul Marmației, und auch Elfriede Jelinek, wenn man bedenkt, dass die Nobelpreisträgerin verwandtschaftliche Beziehungen ins Banater Bergland hatte, und nicht zuletzt der in Czernowitz geborene und zu meinen Lieblingsschriftstellern zählende Gregor von Rezzori.

Eine Stunde und 20 Minuten lang haben Dr. Cezar Gheorghe und Adriana Babeți sich über „die Rolle des multikulturellen, multiethnischen und mehrsprachiges Profils” der Stadt Temeswar im Leben der Bürgerschaft unterhalten. Nach diesem einleitenden Hinweis Cezar Gheorghes war also anzunehmen, dass es in dem Gespräch um mehr als das von Adriana Babeți realisierte Lexikon gehen werde. Und so war es dann auch.

Screenshot: Anton Potche
Allgemein, nicht nur literaturbezogen, vom Banat erzählend, erinnerte Frau Babeți daran, dass nach der Eroberung dieses Landstriches durch die Habsburger im „Quadrat zwischen den vier Flüssen”, wie sie sagte, mit der Zeit nicht weniger als 27 Ethnien in acht Glaubensgemeinschaften siedelten. Es gibt keine Region auf der ganzen Welt, wo jemals mehr als fünf Völker oder Volksstämme sesshaft waren, ohne sich zu bekriegen. Hier hat das historische Banat eine geschichtlich bewiesene Einmalstellung. Und die hat sogar heute noch Auswirkungen in dieser Region, denn es gibt in ganz Rumänien keine Stadt, die mehr gemischte Ehen aufzuweisen hat als Temeswar.

Das Gespräch drehte sich irgendwann auch um die kommunistische Ära. Die zwei Gesprächspartner waren sich einig, dass die Literaturszenen der anderen Ostblockstaaten alle mehr oder weniger einflussreiche Dissidentenaktivitäten aufzuweisen hatten, die letztendlich auch einen Beitrag zum Fall des Eisernen Vorhangs leisteten. Nur Rumänien war in dieser Reihe ein unrühmliches Schlusslicht. Und genau hier erinnerte Cezar Gheorghe an die Aktionsgruppe Banat (1972 bis 1975), was dann zu einer interessanten Diskussion zwischen den zwei Protagonisten dieses Podcastes führte. Auch wenn die Gruppe junger deutschsprachiger Dichter und Schriftsteller nicht als Auslöser der Revolution von Temeswar gesehen werden kann, darf man sie doch als ein Phänomen betrachten, das eine Atmosphäre geschaffen hat, in der später Ereignisse wie das vor dem Haus des Priesters László Tökés in Temeswar stattfinden konnten. Eine interessante These ist das auf jeden Fall. Auch wenn sie den Einfluss der Aktionsgruppe (der oben erwähnte Richard Wagner galt als ihr Wortführer) überbetont, zeigt sie uns, dass die Existenz dieser Gruppe in Rumänien, zumindest in literaturinteressierten Kreisen, noch nicht vergessen ist.

Anton Potche

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