Marcel Reich-Ranicki: Nachprüfung
– Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern; dtv,
München, 1992; ISBN 3-423-11211-5; 383 Seiten; bei Online-Händlern
erhältlich.
Denkt man an Marcel
Reich-Ranicki, fällt einem die Fernsehsendung Das
literarische Quartett ein. Und der inoffizielle Titel
Literaturpapst. M. R.-R. ist 2013 im Alter von 93
Jahren gestorben und die von ihm von 1988 bis 2001 moderierte
Literatursendung längst ins Nachtprogramm des ZDF verbannt.
Geblieben ist die Erinnerung an eine Show-Sendung, die der Literatur
im Allgemeinen und dem Buch als Kulturträger im Besonderen viel
gebracht hat. Ja, ich war ein Fan von M. R.-R., auch wenn
seine apodiktische Art mir nicht immer gefallen hat. Aber diese
häufig missmutige Miene … das war doch hochgradig unterhaltsam.
Auch wenn seine Mitstreiterin in dieser Sendung, Frau Sigrid
Löffler, mit der Aussage bei Wikipedia wie folgt zitiert wird:
„Im Falle Reich-Ranickis war das Fernsehen als Eitelkeitsmaschine
seines Daseins Glück und Unglück. Es hat den Kritiker Reich-Ranicki
zugleich unerhört popularisiert und beschädigt. Er ist heute
prominenter als die meisten Autoren und Bücher, über die er sich
äußert.“ (August 2021).
Wie auch immer, diesen Status eines
beliebten und unbeliebten, geachteten und gefürchteten
Literaturkritikers muss man sich erst einmal erstreiten. Die Bio- und
Bibliographie Reich-Ranickis enthält ausreichend Hinweise auf
die Erlangung eines für die deutsche Literaturkritik des 20.
Jahrhunderts einmaligen Rufs und Einflusses. Zum Glück liegen viele
seiner Arbeiten aus der Wochenzeitung DIE ZEIT und der Tageszeitung
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG in Buchformat vor.
Nachprüfung heißt
eines dieser Bücher. Wir kennen die Nachprüfung aus unserer
Schulzeit. (Ich musste selbst mal eine bestehen.) Bei M. R.-R.
geht es um mehr, um sehr viel mehr. Er hat diese Aufsatzsammlung 1977
zur Publikation freigegeben und präzisiert: „Der Titel Nachprüfung
ist […] wörtlich gemeint. Die Schriftsteller von gestern, zumal
die bedeutendsten, werden dem zweiten Blick ausgesetzt. Sie werden
analysiert und interpretiert, charakterisiert und porträtiert. Doch
immer steht im Mittelpunkt die Frage: Was haben sie uns heute zu
sagen, inwieweit sind die gängigen Urteile noch gültig?“
Drei Ausgaben
hat diese Textsammlung erfahren, jeweils mit kleinen Änderungen und
einzelnen Ergänzungen – auch mit wenigen neuen Texten. Was uns
Marcel Reich-Ranicki hier vorlegt, sind keine
Textinterpretationen, sondern Charakterbeschreibungen von Menschen,
deren Leben von Höhen und Tiefen geprägt war und die in der
literarischen Arbeit Genugtuung, aber auch Zuflucht fanden; Zuflucht
aus einem oft erbärmlichen Leben, geprägt von sexuellen Nöten,
Alkoholismus, Nichtbeachtung, Vergessen und nicht zuletzt von
materieller Not – oft im schmerzlichen Exil. (Das erinnert mich an
die in der LITERARISCHEN WELT beheimatete Kolumne Actionszenen
der Weltliteratur – Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt
es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.)
Marcel
Reich-Ranicki bedient sich in seinen Aufsätzen einer leicht
konsumierbaren Sprache. Seine Sätze sind zwar nicht immer die
kürzesten, aber man sieht sich nur selten dazu genötigt, ein
zweites oder gar drittes Mal nachzulesen. Vorwärtstreibend wirken
auch die betont biografischen Akzente dieser Essays. Man will die
Protagonisten kennenlernen, als Schriftsteller, aber vor allem auch
als Menschen. Und das, obwohl man schon so viel von dem einen oder
anderen gelesen oder gehört hat.
Man kriegt
auch viel von der Zeit mit, in der diese Menschen gelebt haben. Die
Milieuschilderungen eines Kritikers sind dann doch etwas anderes als
die eines Schriftstellers. Sie können (oder müssen) vom Fiktionalen
ganz befreit existieren und dem Leser die Möglichkeit gewähren,
sich eine Welt von anno dazumal einigermaßen realistisch
vorzustellen. So lernen wir nicht nur dem Schreiben verfallene
Menschen kennen, sondern auch deren persönliches, oft sogar intimes
Umfeld.
Was in der
heutigen Zeit als anstößig empfunden werden könnte, war zur
Entstehungszeit dieser Aufsatzsammlung bestimmt noch kein
diskussionswürdiges Thema: etwa eine Mann-Frau-Parität. Anna
Seghers ist von den Hauptprotagonisten in diesem Buch die einzige
Frau unter vielen namhaften Kollegen von Bertolt Brecht bis
Arnold Zweig.
Über Thomas
Mann schreibt Marcel Reich-Ranicki: „Die Diktion seiner
Epik ist von nicht überbietbarer Virtuosität, sie ist vollkommen.“
Das gilt auch für ihn selber, M. R.-R.. Wer sich dieser
Nachprüfung annimmt, wird das bestätigen.
Anton
Potche
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