Montag, 18. März 2024

Das gilt auch für M. R.-R.

Marcel Reich-Ranicki: Nachprüfung – Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern; dtv, München, 1992; ISBN 3-423-11211-5; 383 Seiten; bei Online-Händlern erhältlich.

Denkt man an Marcel Reich-Ranicki, fällt einem die Fernsehsendung Das literarische Quartett ein. Und der inoffizielle Titel Literaturpapst. M. R.-R. ist 2013 im Alter von 93 Jahren gestorben und die von ihm von 1988 bis 2001 moderierte Literatursendung längst ins Nachtprogramm des ZDF verbannt. Geblieben ist die Erinnerung an eine Show-Sendung, die der Literatur im Allgemeinen und dem Buch als Kulturträger im Besonderen viel gebracht hat. Ja, ich war ein Fan von M. R.-R., auch wenn seine apodiktische Art mir nicht immer gefallen hat. Aber diese häufig missmutige Miene … das war doch hochgradig unterhaltsam. Auch wenn seine Mitstreiterin in dieser Sendung, Frau Sigrid Löffler, mit der Aussage bei Wikipedia wie folgt zitiert wird: „Im Falle Reich-Ranickis war das Fernsehen als Eitelkeitsmaschine seines Daseins Glück und Unglück. Es hat den Kritiker Reich-Ranicki zugleich unerhört popularisiert und beschädigt. Er ist heute prominenter als die meisten Autoren und Bücher, über die er sich äußert.“ (August 2021).

Wie auch immer, diesen Status eines beliebten und unbeliebten, geachteten und gefürchteten Literaturkritikers muss man sich erst einmal erstreiten. Die Bio- und Bibliographie Reich-Ranickis enthält ausreichend Hinweise auf die Erlangung eines für die deutsche Literaturkritik des 20. Jahrhunderts einmaligen Rufs und Einflusses. Zum Glück liegen viele seiner Arbeiten aus der Wochenzeitung DIE ZEIT und der Tageszeitung FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG in Buchformat vor.

Nachprüfung heißt eines dieser Bücher. Wir kennen die Nachprüfung aus unserer Schulzeit. (Ich musste selbst mal eine bestehen.) Bei M. R.-R. geht es um mehr, um sehr viel mehr. Er hat diese Aufsatzsammlung 1977 zur Publikation freigegeben und präzisiert: „Der Titel Nachprüfung ist […] wörtlich gemeint. Die Schriftsteller von gestern, zumal die bedeutendsten, werden dem zweiten Blick ausgesetzt. Sie werden analysiert und interpretiert, charakterisiert und porträtiert. Doch immer steht im Mittelpunkt die Frage: Was haben sie uns heute zu sagen, inwieweit sind die gängigen Urteile noch gültig?“

Drei Ausgaben hat diese Textsammlung erfahren, jeweils mit kleinen Änderungen und einzelnen Ergänzungen – auch mit wenigen neuen Texten. Was uns Marcel Reich-Ranicki hier vorlegt, sind keine Textinterpretationen, sondern Charakterbeschreibungen von Menschen, deren Leben von Höhen und Tiefen geprägt war und die in der literarischen Arbeit Genugtuung, aber auch Zuflucht fanden; Zuflucht aus einem oft erbärmlichen Leben, geprägt von sexuellen Nöten, Alkoholismus, Nichtbeachtung, Vergessen und nicht zuletzt von materieller Not – oft im schmerzlichen Exil. (Das erinnert mich an die in der LITERARISCHEN WELT beheimatete Kolumne Actionszenen der Weltliteratur – Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.)

Marcel Reich-Ranicki bedient sich in seinen Aufsätzen einer leicht konsumierbaren Sprache. Seine Sätze sind zwar nicht immer die kürzesten, aber man sieht sich nur selten dazu genötigt, ein zweites oder gar drittes Mal nachzulesen. Vorwärtstreibend wirken auch die betont biografischen Akzente dieser Essays. Man will die Protagonisten kennenlernen, als Schriftsteller, aber vor allem auch als Menschen. Und das, obwohl man schon so viel von dem einen oder anderen gelesen oder gehört hat. 

Man kriegt auch viel von der Zeit mit, in der diese Menschen gelebt haben. Die Milieuschilderungen eines Kritikers sind dann doch etwas anderes als die eines Schriftstellers. Sie können (oder müssen) vom Fiktionalen ganz befreit existieren und dem Leser die Möglichkeit gewähren, sich eine Welt von anno dazumal einigermaßen realistisch vorzustellen. So lernen wir nicht nur dem Schreiben verfallene Menschen kennen, sondern auch deren persönliches, oft sogar intimes Umfeld.

Was in der heutigen Zeit als anstößig empfunden werden könnte, war zur Entstehungszeit dieser Aufsatzsammlung bestimmt noch kein diskussionswürdiges Thema: etwa eine Mann-Frau-Parität. Anna Seghers ist von den Hauptprotagonisten in diesem Buch die einzige Frau unter vielen namhaften Kollegen von Bertolt Brecht bis Arnold Zweig.

Über Thomas Mann schreibt Marcel Reich-Ranicki: „Die Diktion seiner Epik ist von nicht überbietbarer Virtuosität, sie ist vollkommen.“ Das gilt auch für ihn selber, M. R.-R.. Wer sich dieser Nachprüfung annimmt, wird das bestätigen.


Anton Potche

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