Montag, 10. März 2025

Man muss ja nicht alles lesen

 
Martina Petrik: Strandkorb 3 – Ein Urlaubslesebuch; Piper Verlag, München, 1991; ISBN 3-492-11333-8; 309 Seiten; DM 10,--.

DREI steht im Titel dieses Buches wahrscheinlich nicht für die dritte Jahreszeit, also den Herbst, wenn man Strandkörbe nur mehr eingeschränkt benutzt. Wie man sie benutzt, ist natürlich sehr unterschiedlich. Was man immer wieder sieht, ist, dass in so einem Strandkorb auch gelesen wird. Zeitungen, Zeitschriften und Bücher. Im Strandkorb Nr. 3 haben sich viele mehr oder weniger bekannte Namen aus verschiedenen Literaturepochen die Ehre gegeben: Lord Byron, Bert Brecht, August Strindberg, Christoph Ransmayr, Ingeborg Bachmann u. v. a.. Veranstaltet hat das Treffen auf engstem physischem und weitestgehend geistigem Raum die 1956 in Bonn geborene Autorin und Übersetzerin Martina Petrik.

Nun lässt es sich vortrefflich darüber streiten, ob in einen Strandkorb eher Trivialliteratur oder mit dem Stigma der Seriosität bedachte Literatur passt. Wobei natürlich beide so weit auseinanderliegen wie U- und E-Musik. Es bleibt eine Sache des Geschmacks. Auch bei mir. Also habe ich mir zuerst mal das Inhaltsverzeichnis vorgenommen. Und dann geschmökert, aber auch intensiv gelesen. Es war gar nicht so sehr Gustav Schwabs „Jungfrau Europa, die Tochter des Königes Agenor, in der tiefen Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes“ oder Oswald Wieners „mühsamer stil“ in seinen kernstücke[n] zu einer experimentellen vergangenheit oder der schwer verständliche Jahrmarkt Europa, ein schrecklicher Text von Hermann Kasack, die mich berührten oder ärgerten, sondern vor allem die Texte und Autoren, die etwas mit mir zu tun hatten - oder ich mit ihnen.

So stieß ich auf den mitreißenden Essay Auszug aus dem Hause Österreich – Unterwegs zur letzten Kaiserin Europas. Was ich nach dem letzten Satz Christoph Ransmayrs dann verspürte, war ein Gefühl der Geschichtsklitterung, dem ich allerdings nichts negatives anhängen konnte. Und so sieht dann meine Bleistifteintragung unter dem Essay (übrigens der längste Text in dieser Anthologie) auch aus: Herbert Demel war Sprecher des Vorstandes der Audi AG. Ich war dort Schichtarbeiter. Mit Habsburg haben wir beide wenig am Hut. Oder? Kommen wir nicht beide – rein historisch betrachtet – aus der Monarchie, er aus dem Zentrum und ich aus der Peripherie? Sich selber als Geschichte begreifen, würde ich noch hinzufügen. So hat wahrscheinlich auch Ransmayr empfunden, als er diesen dem Band Im blinden Winkel. Nachrichten aus Mitteleuropa entnommene Text verfasste.

Es gibt viele Prosastücke in diesem Buch, die zum Strandkorb, zu seinem Zweck, seiner Grundbestimmung passen. So etwa das von Sten Nadolny in einer Festrede anläßlich einer Tagung der Evangelischen Akademie in Bad Boll (28. - 30.9.84) behandelte Phänomen der Geschwindigkeit: „Raserei erzeugt Raserei. Langsamkeit hingegen ist Zeitgewinn: wir sehen mehr, erheben uns über den Bewußtseinszustand des primitiven Reflexes, können nachdenken.“ Die Tagung war mit Vertretern der Autoindustrie und des ADAC organisiert worden.

Ja, es geht noch langsamer als langsam. Und dabei kann der Weg in eine magische Geschichte führen. Wie das geht, hat Fănuș Neagu in seiner surrealen Erzählung Der Schrei ausprobiert, als die Zeit zum Stillstand gekommen war an einem „Silvestertag, abends, nach acht Uhr“. Und da konnte es schon sein, dass das Gesicht des Protagonisten Ene Lelea „düster und verzerrt war, die Augen in die Tiefe seines Schädels starrten, wild, verschleiert vom Wind und gelb brennend wie Schwefelstücke“.

Die Themenvielfalt in den 41 Texten ist sehr groß. Ein roter Faden ist allerdings schon im Inhaltsverzeichnis angezeigt: Europa (in Gustav Schwabs Prolog). Aufgeteilt wird der Leitfaden in drei Perioden: Europäische Perspektiven einst …, … und jetzt, sowie Europäisches Panorama. Der letzte Farbtupfer des Panoramas wurde von Herta Müller aufgetragen. In ihrem kurzen Essay Ein deutscher Tropfen, und das Glas ist voll mangelt es nicht an Gesellschaftskritik – wie wir es von der Autorin gewohnt sind. „Glück“ und „deutsch“ müssen nicht unbedingt zusammenpassen … Und schon gar nicht, wenn Herta Müller einen Blick auf sie wirft.

Man kann dieses Buch ruhig mit in einen Strandkorb nehmen. Man muss ja nicht alles lesen. Drüberfliegen und bei dem einen oder anderen Text innehalten, lohnt sich auf jeden Fall.

Anton Potche

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