Montag, 10. November 2025

Jahrmarkt vor 100 Jahren – 5

 
Die Vorkommnisse in einem Dorf sind je vielfältiger, je größer die Ortschaft ist. Und Jahrmarkt gehörte schon vor hundert Jahren zu den großen Dörfern des Banats. Es gab damals Vorfälle, auf die man nicht unbedingt stolz sein konnte.

Am 4. Juli 1925 veröffentlichte die BANATER DEUTSCHE ZEITUNG (BDZ) einen in Erzählungsform (mit Dialog) geschriebenen Leserbrief, der den Titel trug Das Nachtquartier auf der Steintreppe und mit H. Bbr. signiert war. Der Autor berichtet von einer abendlichen Begegnung auf den Treppen eines Temeswarer Klosters mit einer obdachlosen Frau im ungefähren Alter zwischen 40 – 45 Jahren. „Die Arme erzählte mir“, schreibt er, „daß sie aus Jahrmarkt sei und keinen Dienst habe. Sie schläft bei Quartiersfrauen.“ Zum Schluss des Artikels oder Leserbriefes macht der Verfasser einen sozialpolitischen Exkurs in die Verhältnisse jener Zeit. Er schreibt von „massenhaft nach Temesvar kommenden schwäbischen Dienstmädchen“, die ein „willkommenes Ausbeutungsobjekt so mancher gewissenlosen »Gnädigen«“ geworden sind. Diese Mädchen vom Dorf sind „billig, fleißig und rein.“ Bei fortgeschrittenem Alter „verproletarisieren sie in der großen Stadt Temesvar. [...] Was geschieht dann mit ihnen?“, fragt sich der Autor des Textes zum Schluss.

Am 4. November 1925 hätte eine Jahrmarkter Witwe gerne ihrer Kuh ein Obdach geboten. Wenn … ja wenn die nicht weggelaufen wäre. Frau Roth hat daher eine Suchanzeige in der Zeitung veröffentlicht: „Seit 28. Oktober l. J. hat sich auf der Jahrmarkter Weide eine 6 jährige Kuh verlaufen. Bei Auffindung derselben wolle man dies Witwe Roth, Jahrmarkt, mitteilen.“ 

Am 19. November hatte die gute Frau ihre Kuh noch immer nicht gefunden und ihre etwas nebulöse Anzeige vom 4. November deutlicher formuliert. Hier scheint die Reaktion der BDZ behilflich gewesen zu sein, denn die Vermisstennachricht erschien nicht als bezahlte Anzeige, sondern in einer Kurzmitteilungsrubrik. Und zwar so: „Rotweiße Kuh verloren. Wer etwas weiß, wolle dies freundlichst mitteilen an Witwe Johann Roth, Jahrmarkt, Nr. 464.“ Ob die Frau ihre Kuh gefunden hat, ist bis heute in keiner Geschichtspublikation über die Gemeinde rund um den Großen Brunnen vermerkt.

Liebesräusche hat es in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Genüge gegeben. Nicht nur im mondänen Berlin, sondern auch in Jahrmarkt. Zumindest waren sie gut für eine Kolportage. Die BDZ berichtete am 28. November 1925 von Frau Sofia Pancia, dass sie die „nahezu 60 Lenze zählende“ Witwe Nr. wegen Liebedienerei angeklagt habe. Frau Nr. habe sich „glühende Liebesdienste“ mit Schnaps von „jungen Männern“ erkauft. Wahrheit oder nur Verleumdung? Die Geschichte landete vor dem Temeswarer Bezirksgericht. Bezirksrichter Dr. Fiala sah Verleumdung im Spiel und bestrafte Sofia Pancia mit einer Zahlung von 1000 Lei. Die Zeugen hatten sich für die Unschuld von Nr. ausgesprochen.

Da schickten im Dezember 1925 Leute Geld nach Hause und ein 30 Jahre alter Postbeamte konnte seinem Drang nach leicht erworbenem Weihnachtsgeld nicht widerstehen. Aurel Marinescu hieß der Postbeamte, und die Summen, die er unterschlagen hat, lagen bei 226 Doller und 130.000 Lei. Dazu kamen noch „größere Geldbeträge aus den Geldbriefen des Friedrich Sehl (Jahrmarkt), der Anna Sandu (Feheregyhaza) und des Anton Martin (Blumenthal)“. Die Geschichte mit dem Krug und dem Brunnen kennen wir ja. So war es auch hier. Aurel Marinescu wurde bei seiner „diebischen Manipulation“ ertappt und landete für ein Jahr im Gefängnis. Ich aber war neugierig – nicht damals, sondern jetzt – wer mein Landsmann Friedrich Sehl war. Das Ortssippenbuch Jahrmarkt nennt bloß einen Mann mit diesem Namen, der mit zwei Frauen 14 Kinder gezeugt hat und im Juli 1926 im gesegneten Alter von 80 Jahren verstorben ist – in Jahrmarkt. Das sagt mir, dass sein „Geldbrief“ wohl kaum aus den Vereinigten Staaten vom Amerika gekommen war wie einige der vom betrügerischen Postmitarbeiter unterschlagenen Sendungen. Aber g‘wiss ist nichts.

Für die Weihnachtszeit war das eine ganz schlechte Nachricht. Am 15. Dezember 1925 veröffentlichte die BANATER DEUTSCHE ZEITUNG einen ausführlichen Bericht über die Folgen der in Bessarabien ausgebrochenen Hungersnot. Dort lebten viele Deutsche, und das ließ die Banater Schwaben nicht unberührt. Dörfer wie Kneß, Warjasch, Lenauheim haben Abgesandte nach Bessarabien geschickt, um von der Armut bedrohte Bessarabiendeutschen Arbeitsplätze in der Landwirtschaft im Banat anzubieten. Auch viele andere Ortschaften planten solche Hilfsmaßnahmen, unter ihnen auch Jahrmarkt. Ohne beidseitigen politischen und administrativen Einsatz ging das natürlich nicht. Wortwörtlich hieß das laut BDZ: „Diese Hilfsaktion leitet im Banate die Hauptstelle der Deutsch schwäbischen Volksgemeinschaft, während der Deutsche Volksrat in Tarutino unsere Entsendeten, die hauptsächlich die Gemeinden des Hungergebietes aufsuchen müssen, mit Rat und Tat unterstützt. […] Die Kneßer erzählen, daß die bessarabischen Schwaben trotz aller Not sich nur schwer zum Verlassen ihrer Heimat entschließen.“ Ja, ja, so ist das mit der Heimat!

Noch kurz vor Weihnachten wurden die Sitze der Bezirksgerichte und die zu ihnen gehörenden Gemeinden und Dörfer in der BDZ am 20. Dezember veröffentlicht. Die Beisitzer der Bezirksgerichte befanden sich in den Ortschaften Billed, Lugosch, Detta, Hatzfeld, Lippa, Rekasch, Großsanktnikolaus, Temesvar und Vinga. Jahrmarkt gehörte zum 2. Bezirksgericht der Stadt Temesvar. Dazu gehörten ferner „die in der Umgebung der Stadt liegenden Dörfer“. Zum ersten (1.) Bezirksgericht gehörte nur Temesvar.
Und weil dieses Jahr für Jahrmarkt irgendwie nicht mit einer guten Nachricht ausklingen wollte, sei noch erwähnt, dass die gleiche Nummer der BANATER DEUTSCHEN ZEITUNG unter der Rubrik Fern von der Heimat gestorbene Banater folgende Botschaft veröffentlichte: „Aus Chikago wird berichtet: Am Freitag, den 13. November, starb nach achtwöchentlichem schweren Leiden, das er sich durch einen Unfall zugezogen hat, der aus Jahrmarkt stammende Johann Loriß. Der Verstorbene stand im 47. Lebensjahre. Er wird von seiner Gattin und vier Kinder betrauert.“

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