Die
Vorkommnisse in einem Dorf sind je vielfältiger, je größer die
Ortschaft ist. Und Jahrmarkt gehörte schon vor hundert Jahren zu den
großen Dörfern des Banats. Es gab damals Vorfälle, auf die man
nicht unbedingt stolz sein konnte.
Am 4. Juli
1925 veröffentlichte die BANATER DEUTSCHE ZEITUNG (BDZ) einen in
Erzählungsform (mit Dialog) geschriebenen Leserbrief, der den Titel
trug Das Nachtquartier auf der Steintreppe und mit H. Bbr.
signiert war. Der Autor berichtet von einer abendlichen Begegnung auf
den Treppen eines Temeswarer Klosters mit einer obdachlosen Frau im
ungefähren Alter zwischen 40 – 45 Jahren. „Die Arme erzählte
mir“, schreibt er, „daß sie aus Jahrmarkt sei und keinen Dienst
habe. Sie schläft bei Quartiersfrauen.“ Zum Schluss des Artikels
oder Leserbriefes macht der Verfasser einen sozialpolitischen Exkurs
in die Verhältnisse jener Zeit. Er schreibt von „massenhaft nach
Temesvar kommenden schwäbischen Dienstmädchen“, die ein
„willkommenes Ausbeutungsobjekt so mancher gewissenlosen
»Gnädigen«“
geworden sind. Diese Mädchen vom Dorf sind „billig, fleißig und
rein.“ Bei fortgeschrittenem Alter „verproletarisieren sie in der
großen Stadt Temesvar. [...] Was geschieht dann mit ihnen?“, fragt
sich der Autor des Textes zum Schluss.
Am 4. November
1925 hätte eine Jahrmarkter Witwe gerne ihrer Kuh ein Obdach
geboten. Wenn … ja wenn die nicht weggelaufen wäre. Frau Roth
hat daher eine Suchanzeige in der Zeitung veröffentlicht: „Seit
28. Oktober l. J. hat sich auf der Jahrmarkter Weide eine 6 jährige
Kuh verlaufen. Bei Auffindung derselben wolle man dies Witwe Roth,
Jahrmarkt, mitteilen.“
Am 19.
November hatte die gute Frau ihre Kuh noch immer nicht gefunden und
ihre etwas nebulöse Anzeige vom 4. November deutlicher formuliert.
Hier scheint die Reaktion der BDZ behilflich gewesen zu sein, denn
die Vermisstennachricht erschien nicht als bezahlte Anzeige, sondern
in einer Kurzmitteilungsrubrik. Und zwar so: „Rotweiße Kuh
verloren. Wer etwas weiß, wolle dies freundlichst mitteilen an Witwe
Johann Roth, Jahrmarkt, Nr. 464.“ Ob die Frau ihre Kuh
gefunden hat, ist bis heute in keiner Geschichtspublikation über die
Gemeinde rund um den Großen Brunnen vermerkt.
Liebesräusche
hat es in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Genüge
gegeben. Nicht nur im mondänen Berlin, sondern auch in Jahrmarkt.
Zumindest waren sie gut für eine Kolportage. Die BDZ berichtete am
28. November 1925 von Frau Sofia Pancia, dass sie die „nahezu
60 Lenze zählende“ Witwe Nr. wegen Liebedienerei angeklagt
habe. Frau Nr. habe sich „glühende Liebesdienste“ mit
Schnaps von „jungen Männern“ erkauft. Wahrheit oder nur
Verleumdung? Die Geschichte landete vor dem Temeswarer
Bezirksgericht. Bezirksrichter Dr. Fiala sah Verleumdung im
Spiel und bestrafte Sofia Pancia mit einer Zahlung von 1000
Lei. Die Zeugen hatten sich für die Unschuld von Nr.
ausgesprochen.
Da schickten
im Dezember 1925 Leute Geld nach Hause und ein 30 Jahre alter
Postbeamte konnte seinem Drang nach leicht erworbenem Weihnachtsgeld
nicht widerstehen. Aurel Marinescu hieß der Postbeamte, und
die Summen, die er unterschlagen hat, lagen bei 226 Doller und
130.000 Lei. Dazu kamen noch „größere Geldbeträge aus den
Geldbriefen des Friedrich Sehl (Jahrmarkt), der Anna Sandu
(Feheregyhaza) und des Anton Martin (Blumenthal)“. Die
Geschichte mit dem Krug und dem Brunnen kennen wir ja. So war es auch
hier. Aurel Marinescu wurde bei seiner „diebischen
Manipulation“ ertappt und landete für ein Jahr im Gefängnis. Ich
aber war neugierig – nicht damals, sondern jetzt – wer mein
Landsmann Friedrich Sehl war. Das Ortssippenbuch
Jahrmarkt nennt bloß einen Mann mit diesem Namen, der mit
zwei Frauen 14 Kinder gezeugt hat und im Juli 1926 im gesegneten
Alter von 80 Jahren verstorben ist – in Jahrmarkt. Das sagt mir,
dass sein „Geldbrief“ wohl kaum aus den Vereinigten Staaten vom
Amerika gekommen war wie einige der vom betrügerischen
Postmitarbeiter unterschlagenen Sendungen. Aber g‘wiss ist nichts.
Für die
Weihnachtszeit war das eine ganz schlechte Nachricht. Am 15. Dezember
1925 veröffentlichte die BANATER DEUTSCHE ZEITUNG einen
ausführlichen Bericht über die Folgen der in Bessarabien
ausgebrochenen Hungersnot. Dort lebten viele Deutsche, und das ließ
die Banater Schwaben nicht unberührt. Dörfer wie Kneß, Warjasch,
Lenauheim haben Abgesandte nach Bessarabien geschickt, um von der
Armut bedrohte Bessarabiendeutschen Arbeitsplätze in der
Landwirtschaft im Banat anzubieten. Auch viele andere Ortschaften
planten solche Hilfsmaßnahmen, unter ihnen auch Jahrmarkt. Ohne
beidseitigen politischen und administrativen Einsatz ging das
natürlich nicht. Wortwörtlich hieß das laut BDZ: „Diese
Hilfsaktion leitet im Banate die Hauptstelle der Deutsch schwäbischen
Volksgemeinschaft, während der Deutsche Volksrat in Tarutino unsere
Entsendeten, die hauptsächlich die Gemeinden des Hungergebietes
aufsuchen müssen, mit Rat und Tat unterstützt. […] Die Kneßer
erzählen, daß die bessarabischen Schwaben trotz aller Not sich nur
schwer zum Verlassen ihrer Heimat entschließen.“ Ja, ja, so ist
das mit der Heimat!
Noch kurz vor
Weihnachten wurden die Sitze der Bezirksgerichte und die zu ihnen
gehörenden Gemeinden und Dörfer in der BDZ am 20. Dezember
veröffentlicht. Die Beisitzer der Bezirksgerichte befanden sich in
den Ortschaften Billed, Lugosch, Detta, Hatzfeld, Lippa, Rekasch,
Großsanktnikolaus, Temesvar und Vinga. Jahrmarkt gehörte zum 2.
Bezirksgericht der Stadt Temesvar. Dazu gehörten ferner „die in
der Umgebung der Stadt liegenden Dörfer“. Zum ersten (1.)
Bezirksgericht gehörte nur Temesvar.
Und weil
dieses Jahr für Jahrmarkt irgendwie nicht mit einer guten Nachricht
ausklingen wollte, sei noch erwähnt, dass die gleiche Nummer der
BANATER DEUTSCHEN ZEITUNG unter der Rubrik Fern von der Heimat
gestorbene Banater folgende Botschaft veröffentlichte: „Aus Chikago wird
berichtet: Am Freitag, den 13. November, starb nach achtwöchentlichem
schweren Leiden, das er sich durch einen Unfall zugezogen hat, der
aus Jahrmarkt stammende Johann Loriß. Der Verstorbene stand
im 47. Lebensjahre. Er wird von seiner Gattin und vier Kinder
betrauert.“

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