Donnerstag, 18. August 2011

Stauumfahrung führt in die deutsche Geschichte

Wir waren auf dem Weg nach Norden. Dann war es da, das gefürchtete Warnblinklicht des Vorderwagens. Stau! Wir standen irgendwo auf der Berliner Umgehungsautobahn. Eine neue Verkehrsdurchsage für Ihre Route, sagte Frau Navi mit ihrer angenehmen Stimme. Leider war die Durchsage vorbei, bis Evi den Verkehrssender angewählt hatte. Es wird ja bald weitergehen, meinte sie. Und hatte recht. Nur ging es leider im Schneckentempo vorwärts. Auch sinnloser Spurenwechsel anderer Leidensgenossen führte zu keiner Verkehrsbeschleunigung. Nach einer guten halben Stunde und einem Vorwärtsgewinn von ca. 5 km kam die nächste Verkehrsdurchsage. Stau bis Fehrbellin.

Evi greift sich die Karte. Da, gleich nach dem Autobahnwechsel bietet sich eine Stauumfahrung an, sogar über einen Abschnitt der Deutschen Alleenstraße. Raus. Frau Navi bietet uns sofort eine andere Bundesstraße an. Das wollen wir aber nicht und fahren weiter, alle freundlichen und gut gemeinten Umkehraufforderungen ignorierend, - aber auch flugs an der anvisierten Alleenstraße vorbei. Macht nichts. Wir sind ja im Urlaub. Besonders da führen viele Wege nach Rom. Evi hat Frau Navis Rolle übernommen. Es geht geradeaus in die Beetzer Heide. Aufatmen. Dichter Wald. Die Autobahnschwüle ist vergessen. man benötigt keine Klimaanlage mehr. Geöffnete Fenster sind besser. Die Fahrt ist langsamer und doch schneller als Stauvorrücken. Natur pur, nordwestlich von Berlin. Dann das erste Dorf nach der Heide. Bisher dachte ich immer, Heide habe nur etwas mit freiem Blick bis zum Horizont zu tun.

Der Markt Herzberg. Ein Friedhof um die Natursteinkirche. Unser Urlaubsziel hat jede Relevanz verloren. Einchecktermine sind sowieso unnötige Stressfaktoren. Evi reicht mir den Fotoapparat. Sie weiß Bescheid, als sie mein Bremsen spürt.

Die Fahrt geht weiter. Zu meiner Linken huscht ein Gedenkstein vorbei. Ich kann nur ein Wort lesen, Todesmarsch, und ärgere mich zu schnell gewesen zu sein. Gegenverkehr hält mich vom Wenden ab. Aber da sind plötzlich diese Funken: Nazis, Konzentrationslager, Krieg...

Wir sind vor Neuruppin und fahren geradewegs in die deutsche Geschichte.



Ein Mann kommt auf einem alten Fahrrad daher. Er hat eine stark abgenutzte Waschschüssel von einem bekannten Trödler gekauft. Ich wusste, dass ich mich längst auf eigene Gefahr in ehemals militärisches Gelände gewagt hatte. Eine Tafel sorgt für Aufklärung. Das reicht mir aber nicht. Begriffe wie Schlacht um Berlin, Einkesselung, Hitler, Schukow begleiten meinen Finger auf dem Auslöseknopf der Fotokamera. Der Unbekannte nimmt sich Zeit für mich. Er legt seine alte Porzellanschüssel ins Gras. Das war ein Flugplatz der Wehrmacht, bestätigt er meine Vermutung. ZU DDR-Zeiten hatten deutsche hier keinen Zutritt, erzählt er mir. Schade, dass sein Bruder jetzt nicht hier sei, der interessiere sich für Geschichte und könnte mir bestimmt mehr erzählen. Aber russische Militärjets seien jahrelang dort über die Tankstelle gedonnert, daran könne auch er sich noch gut erinnern. Stellen Sie sich vor, da wäre einer abgestürzt. Wirklich schade, dass der Bruder jetzt nicht da ist. Der weiß, dass Neuruppin schon immer etwas mit dem Militär zu tun hatte.

Ich glaube ihm das gerne und wir fahren weiter in Richtung Autobahn, hinaus aus einer Panoramageschichte, die in der Gegend um Neuruppin mit der Schlacht bei Fehrbellin, dem Fehrbelliner Reitermarsch, den zwei Weltkriegen und der DDR nicht deutscher sein könnte, eine Geschichte voller Stürme, deren Wellen oft weit über die eigene, beschauliche Heimat geschwappt sind und so manchen Tsunami ausgelöst haben.

Aber sie, die Geschichte, schwebt zum Glück nur über unseren Köpfen. Sie bleibt nie Teil unseres Alltags. Wenn wir sie als Wissenschaftszweig wahrnehmen, hat sie uns selbst kaum oder nur flüchtig berührt. Umso schöner ist es, ihr zu begegnen und sich mit ihr auseinanderzusetzen – wenn das auch nicht immer schmerzlos und nur unterhaltsam ist. Erhebt sie sich aber sichtbar über unseren Köpfen, dann sei ihr, noch immer der Geschichte, auch ein versöhnendes (aber nicht auch vergessendes) Adieu gegönnt.
Anton Potche
Video & Fotos: Anton Potche

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