Montag, 9. Februar 2015

Ein Oskar Schindler des Ostens

Siegfried Jägendorf: Das Wunder von Moghilev - Herausgegeben und kommentiert von Aron Hirt-Manheimer – Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrike Döpfer; Transit Buchverlag, Berlin, 2009; 220 Seiten, zahlreiche Dokumente und Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-88747-241-2; 18,80 € 

Um es gleich vorwegzunehmen: Man hält ein sowohl erschütterndes als auch erbauliches Buch in der Hand. Erschütternd, weil es vom gewaltsamen Tod tausender unschuldiger Menschen erzählt, und erbaulich, weil es von der Rettung vor dem gewaltsamen Tod von etwa 10.000 Menschen berichtet. Ein Buch, das von außerordentlichem Mut wie auch von Feigheit und Unmenschlichkeit berichtet. Grund des Übels: die Nazischergen und ihre rumänischen Helfershelfer. Das Aufbäumen dagegen: eine Handvoll jüdischer Intellektueller unter der Führung von Siegfried Jägendorf. Tatort: Moghilev, eine Stadt in Transnistrien.

Siegfried Jägendorf (1885 – 1970) war ein in der Bukowina geborener Ingenieur, der im Rahmen der Judenverfolgungen in Rumänien verschleppt wurde und in der Deportation die Initiative zur Instandsetzung einer zerstörten Fabrik ergriff, in der viele Juden eine Beschäftigung fanden und so von der Vernichtung verschont blieben. Er schrieb ab 1956 an seinen Memoiren, die den Titel trugen: Jägendorf. Meine Geschichte des Zweiten Weltkriegs – Der wahre Bericht darüber, wie 10.000 meines Volkes gerettet wurden. Veröffentlicht wurde diese Niederschrift einer schier unglaublichen Geschichte aber nicht. Erst 1988 nahm der amerikanische Publizist Aron Hirt-Manheimer sich des Manuskriptes an, begann umfangreiche Recherchen zu betreiben – mit Befragungen vieler Überlebender – und veröffentlichte Die Rettung von zehntausend Juden vor dem rumänischen Holocaust (Untertitel) 1991 in den USA. Nach einer rumänischen Ausgabe (Minunea de la Moghilev: memorii 1941-1944, Editura Hasefer, 1997) ist das Buch 2009 im Berliner Transit Verlag auch in Deutsch erschienen.

Wie es zu diesem Wunder kommen konnte, ist hier nicht nur aus Sicht seines Verursachers, Siegfried Jägendorf, sondern auch als Resultat umfangreicher Forschungsarbeit von Aron Hirt-Manheimer dokumentiert. Man liest also eine Mischung aus Autobiografie und historischem Bericht, was besonders zur Stärkung von Jägendorfs Glaubwürdigkeit beiträgt. Und das, obwohl Hirt-Manheimer keineswegs schonend, sondern sehr fakten- und zeugenaussagengetreu mit seinem Protagonisten umgeht. Besonders Max Schmidt, seines Zeichens Stellvertreter Jägendorfs und dem Hirt-Manheimer ein hervorragendes Gedächtnis (mit 80 Jahren) bescheinigt, lässt auch kritische Töne anklingen. Jägendorf hat am 7. März 1944 nach Interventionen aus Bukarest Moghilev verlassen (wo er am 3. November 1941 den folgeschweren Entschluss hinsichtlich der zerstörten Fabrik gefasst hatte: „Wir werden sie wieder aufbauen!“), ohne sich von seinen Weggefährten zu verabschieden. Max Schmidts Kommentar: „Wir waren schockiert und verärgert, als wir erfahren mussten, dass uns unser Anführer alleingelassen hatte in einer Zeit großer Gefahr.“ Die angeschlagenen Deutschen waren auf dem Rückzug, was sie für die Juden in Transnistrien natürlich umso gefährlicher machte.

Das Buch hat sieben je zweiteilige Kapitel. Den Aufzeichnungen Siegfried Jägendorfs folgt jeweils ein ausführlicher Kommentar von Aron Hirt-Manheimer zur allgemeinen politischen Lage des betreffenden Zeitabschnitts. Dem Leser öffnet sich so ein jüdisches Gesellschaftspanorama in einer existenziellen Notlage. Man erfährt einiges über die Organisationsstrukturen der jüdischen Gemeinschaft in Rumänien zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und darf erstaunt sein über den sogar in Pogromzeiten vorhandenen Einfluss dieser Volksgruppe, Einfluss, den ihre Führungsmänner so gut wie nur irgendwie möglich ausnutzten, um je mehr ihrer deportierten Landsleute zu retten. Trotzdem konnte die Effizienz der nazistischen Tötungsmaschinerie kaum eingedämpft werden. Dazu schreibt Hirt-Manheimer in der Einführung zu diesem Buch: „Von den schätzungsweise 150.000 nach Transnistrien deportierten Juden waren noch etwa 50.000 am Leben, als die Sowjets im März 1944 das Gebiet zurückeroberten. Sie hätten nicht überleben können ohne Menschen wie Siegfried Jägendorf – einem Mann, der das Überlebensspiel beherrschte in der Ausweglosigkeit der Verbannung.“ Am schlimmsten traf die Mordorgie die Juden in Bessarabien. „Von geschätzten 207.000 zur Zeit der Invasion der Achsenmächte überlebten nur ungefähr 20.000. Am 17. Juli 1941 stürmten deutsche und rumänische Truppen die bessarabische Stadt Chisinau [Chişinău, A.d.R.] und metzelten über 10.000 Juden nieder. Ähnliche Gräueltaten löschten die jüdische Landbevölkerung in den ersten Tagen der Okkupation aus.“

Damit sich so etwas nie mehr wiederholt, benötigt man Bücher wie Das Wunder von Moghilev. Dass sie aber viel zu wenig gelesen werden – es gibt sie ja zuhauf als Sach- und Belletristikbände -, führte uns der Jugoslawienkonflikt in schmerzlicher Klarheit vor Augen.
Anton Potche

Zu diesem Buch: Minunea de la Moghilev

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