Ich will mitreden. Ich habe etwas zu sagen. Und was ich zu
sagen habe, ist richtig. Meist ist es die einzige Wahrheit. Nur niemand soll
wissen, wer ich bin. Meine Identität muss geschützt bleiben vor der Welt. Sie
darf nur für mich existieren. Sonst könnte sie mir schaden, meine eigene
Identität. Ich darf sie nicht freigeben, sonst kann sie sich gegen mich, ihren
Hort des Seins, wenden. So und so ähnlich erleben wir sie täglich im Internet,
die Millionen Nicknames mit ihren schrecklichen Ängsten vor der Enthüllung
ihrer Identität. Warum verbergen sie sich, haben sie etwas verbrochen? Woher
kommt diese Angst, erkannt zu werden? Wie kann man mit
einer solchen Selbstverleugnung überhaupt leben? Tag für Tag, Monat für Monat,
Jahr für Jahr. Zittern vor der eigenen Identität, dem Ich. Man könnte diesen
Sachverhalt mit der Bemerkung abtun, dass wir es mit einem Internetphänomen zu
tun haben. Auch das Medienzeitalter hat wie alle Perioden der Geschichte seine
spezifischen Merkmale, und dazu gehört nun mal auch die Angst vor der eigenen
Identität in der Öffentlichkeit.
Dieser Beschwichtigung könnte man folgen, wenn ... ja, wenn
diese Angst die Menschen nicht auch in der realen Welt begleiten würde, in
ihrem stinknormalen Alltag. Ich stand samstagmorgens am Bücherstand von Bruder Martin – er kümmert sich um die
Obdachlosen in Ingolstadt – und schmökerte. Es könnte ja etwas dabei sein. Und
ein, zwei Euro für Bruder Martin und
sein Engagement im Sinne der Menschlichkeit sind immer gut angelegt.
Dann fuhr er an, der NPD-Mann mit seinem
Propagandawägelchen. Nur wenige Meter entfernt von Bruder Martin hielt er an, plusterte sich auf wie ein Pfau und
begann seine fremdenfeindlichen Parolen in die Fußgängerzone zu schreien. Die
Zeit für solche Ein-Mann-Auftritte sind nicht die ungünstigsten. Weder bei uns
noch anderswo in Europa. Ich griff sofort nach meinem Apparat. Den hältst du
fest, diesen Marktschreier in Sachen Asylpolitik. Denn eins scheint klar, so
aufnahmefreundlich, wie wir uns gerne geben, sind wir anscheinend gar nicht.
Der Beleg dafür? Hinter mir versammelte sich sofort eine
diskussionsfreudige – falsch, diskussionswütige – Gruppe. Die nimmst du mit auf
den Film, schließlich gehören sie zu diesem immerhin öffentlichen Auftritt
(wie ich selber natürlich auch dazu gehörte – zumindest für die zwei Minuten,
die ich bei diesem Spektakel verbrachte). Ich drehte mich weiter filmend um und
sofort löste sich eine Frau aus der Menge der mittlerweile nicht nur
diskutierenden sondern auch schon lebhaft gestikulierenden Gruppe und kam auf
mich zu. „Was erlauben sie sich, mich – sie hat nicht gesagt „uns“ – zu filmen.
Wer gibt Ihnen das Recht dazu?“ Sie zitterte förmlich, die Arme, die Entdeckte,
die Enthüllte, die Bloßgestellte. Ich bat sie dann an einen schattigen Ort und
zeigte ihr, dass sie auf dem Film (nur etwa 0,5 Sekunden lang, genauer 614 KB) nicht
zu erkennen ist. Und ich versicherte ihr auch, dass ich den
Halbe-Sekunden-Mitschnitt ihres Auftrittes als Zuschauerin bei dieser Ein-Mann-Prozerei löschen werde.
Anscheinend wirkte ich glaubwürdig. Die Frau war beruhigt.
Ihre Identität wird gelöscht. Welch eine Genugtuung! Was hat ihr diese Angst
eingejagt? Fürchtete sie sich vor der Stigmatisierung einer NPD-Sympathiebekundung oder umgekehrt vor einer Political-Correctness-Einstufung?
Wer kann das schon wissen? Niemand kennt ihr Umfeld und die aus ihm eventuell zu
erwartenden Reaktionen.
Diskutieren im öffentlichen Raum ist ein Akt der Zivilcourage.
Aber nur, wenn man das mit einer eigenen Identität tut. Diese mir unbekannte
Frau bleibt gesichts- und damit identitätslos. Ihr Mitreden (falls sie es getan
hat und zu wessen Gunsten oder Ungunsten auch immer) ähnelt doch sehr dem der
Millionen No-Name-Surfer im virtuellen – also sinnlich kaum fassbaren – Raum. Ein
Mitreden, das man getrost sofort vergessen kann. Natürlich habe ich die 614 KB
Filmmaterial gelöscht. Es war nicht verwertbar.
Anton Potche
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