Die Herangehensweise beim Lesen eines Sachbuches bleibt
natürlich dem Leser überlassen und ist wahrscheinlich so differenziert wie die
unterschiedlichen Leserbiografien. Damit wäre auch schon das Stichwort für
meine Herangehensweise an dieses Buch gefallen: Biografie. Während der Lektüre
ertappte ich mich immer wieder bei den Vergleichen der verschiedenen erörterten Theorien mit meinen eigenen „Lebenswelten“. Das wäre vielleicht
nicht so intuitiv geschehen, wenn der Schwerpunkt der hier ausgebreiteten
Forschungsergebnisse sich nicht auf Südosteuropa und besonders auf Rumänien
bezöge, wo ich immerhin meine Kindheit und Jugend verbracht habe. Oder anders
gesagt: Wo meine erste Heimat liegt.
Die in diesem Band versammelten Texte sind größtenteils in
der Zeitschrift LAND-BERICHTE. SOZIALWISSENSCHAFTLICHES JOURNAL erschienen,
deren Mitherausgeber Anton Sterbling
ist. Sie sind in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Teil befasst der Autor sich
mit den Entwicklungsverläufe[n] in
Südosteuropa, dann mit dem Thema Das
Banat und die Banater Schwaben und
schließlich mit Migrationsprozesse[n] und soziale[n] Folgen.
Nun könnte man meinen, das wären alles trockene Theorien.
Nicht aber, wenn man sie auf die eingangs erwähnten eigene Biografie und
„Lebenswelt“ (ein immer wieder eingesetzter Markierungspunkt in dieser Arbeit)
bezieht. Zur Erläuterung dieses Begriffs heißt es an einer Stelle im Buch: „Das
Kernelement der >Lebenswelt< bildet das alltägliche soziale Geschehen,
die >Wirklichkeit der Alltagswelt<, die sich aus dem praktischen Handeln
sowie den alltäglichen Interaktionsvorgängen und den darin involvierten
Sinnmustern und Relevanzstrukturen sowie dem darauf bezogenen Alltagswissen ergibt.“ In der
Alltagssprache heißt das nicht mehr, als dass es sich um eine wissenschaftliche
Erklärung unseres – ich beziehe mich jetzt auf die Südosteuropäer – damaligen
Lebens handelt. Natürlich erinnert sich jeder noch an seine „Lebenswelt“. Und
der eine oder andere gesteht sich vielleicht auch ein, dass er damals nicht
immer wusste, wie ihm geschah. Dieses Buch könnte ihm im Nachhinein die eine
oder andere Aufklärung liefern.
Da gab es doch zum Beispiel in so manchem Dorf diese
haarsträubenden Geschichten mit einem banatschwäbischen Mädchen, das sich in
der Stadt in einen rumänischen Schul- oder Arbeitskollegen verliebte - oder
umgekehrt, ein deutscher Junge ... Die wissenschaftliche Erklärung dieses unerhörten
familien- und gemeinschaftsschädigenden Verhaltens liefert Prof. Dr. Anton Sterbling in einem Satz: „Die
Eingliederung der Banater Schwaben in kleinere oder größere staatliche Betriebe
und insbesondere die damit verbundenen Mobilitätsprozesse wirkten sich,
wenngleich zeitlich verzögert und vielfältig relativiert, doch tendenziell
entfremdend und auflösend auf ihr kleinräumig strukturiertes, ethnozentrisches
soziales und kulturelles Leben aus.“
Solche Sätze gibt es viele in diesem Buch. Und wenn man auch
den einen oder anderen vielleicht besser gleich zweimal oder öfter lesen und
womöglich auch ein Fremdwörterbuch griffbereit halten sollte, kann man eine
solche Lektüre nur empfehlen. Es kann ganz interessant – und manchmal auch
ärgerlich – sein, zu wissen, welches kleine und unscheinbare Rädchen man auf
seinem Erdentrip war und noch immer ist. Wer sich auf die Aufsätze dieses
Buches einlässt, wird bestimmt mit so mancher Erkenntnis bereichert, denn die
angeschnittenen Themen sind weit vielschichtiger, als man sie in einer
Rezension erläutern kann.
Ein Aufsatz trägt die Überschrift: Die Deutschen aus Rumänien und die Hinterlassenschaften der Securitate
– eine unbewältigte Vergangenheit. Auch Sterbling war ein Opfer der Securitatebespitzelungen. Er stellt heute
mit wissenschaftlicher Nüchternheit (insofern das als Betroffener möglich ist) fest:
„Die Täter finden nicht nur oft mehr Interesse in der Öffentlichkeit als die
Opfer, sondern neigen nicht selten auch dazu, ihre Opfer zu diskreditieren, um
die eigene Schuld zu verharmlosen oder zu relativieren.“ Damit meint er die
deutsche Öffentlichkeit. Und das wiederum ist ein Kapitel für sich, auch für
die deutsche Justiz nicht unbedingt rühmliches. Dass hierzulande lebende und
enttarnte Securitatespitzel irgendwelche schmerzhaften Konsequenzen ihrer
schmutzigen Tätigkeit zu spüren bekommen hätten, ist zumindest mir nicht
bekannt. Im Gegenteil, es gibt Opfer, denen ein Maulkorb verpasst wurde. Dass
die Lage in Rumänien nicht besser ist, macht den Scheuklappenblick deutscher
Richter leider für die Opfer nicht verträglicher. Die Täter scheinen auf jeden
Fall mit ihrer Schuld sehr gut zurechtzukommen.
Anton Potche
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen