Montag, 9. Januar 2017

Weihnachten mit Karl May

Weihnachten mit Karl May? Geht das? Ja, warum denn nicht? An die Sterne –»Süße kleine Himmelsaugen«, »Auf Golgatha ans Kreuz geschlagen« (Osterkantate), Ave Maria – Es will das Licht des Tages scheiden, Ave Maria der Gondolieri am Traghetto della Salute, »Ich will dich auf den Händen tragen« (Nottourne), Nun gehst du hin in Frieden, Vergiß mich nicht, »Zieht im Herbst die Lerche fort« (Serenade), »Siehe, ich verkündige euch große Freude« (Weihnachtskantate). Das alles sind Kompositionen von Karl May, dem geistigen Schöpfer von Winnetou und Old Shatterhand. Was musikalisch möglich ist sollte auch filmisch möglich sein. „Weihnachten mit Winnetou – Der Dreiteiler mit Wotan Wilke Möhring und Nix Xhelilaj spaltet an den Feiertagen die Fernsehnation“, verkündete vor Weihnachten ein Fernsehmagazin auf seiner Titelseite.

Mir war sofort klar, auf welche Seite ich mich schlagen werde. Die RTL-Produktionen Winnetou – Eine neue Welt, Winnetou – Das Geheimnis vom Silbersee und Winnetou – Der letzte Kampf waren für mich ein Muss, trotz nervenzehrender Werbung. (Normal schaue ich kein Privatfernsehen.) Die Begründung liegt auf der Hand: Ich war, seit ich lesen kann, Karl-May-Fan. Ja, viel mehr, Karl May und seine Bücher bedeuten für mich bis heute Heimat, eine vor vielen Jahren freiwillig aufgegebene Heimat. Das hieße aber, das Banat in Beziehung zum Wilden Westen zu stellen. Dieser Vergleich fiel mir in den zurückliegenden Weihnachtstagen ein, weil ich schon einmal öffentlich mit ihm hausieren gegangen war.

Und das kam so: Das Stadttheater Ingolstadt stellt seine Spielzeiten jeweils unter ein Motto. Die Saison 2011 / 2012 trug die Überschrift Fremde Heimat. Intendant Knut Weber schrieb damals im Spielzeitheft: „Der >Erste Abend< am 8. Oktober im Stadttheater ist ein >Heimatabend<, eine Fantasie aller Ensemblemitglieder und vieler der in Ingolstadt beheimateten Menschen: Ein Abend über die Sehnsucht nach Heimat und über die Gewissheit, sie zu haben, über Heimweh und Lust auf Neues, über Abschied und Ankommen.“ Einherging auch ein Aufruf an die Bevölkerung von Stadt und Umland, sich mit Gegenständen, die ihnen Heimat oder Fremde Heimat bedeuten, an dieser Spielzeit zu beteiligen. In Glasvitrinen waren diese Beiträge der Bevölkerung zu diesem Thema dann im Foyer des Theaters ausgestellt. In diesem „temporären Heimatmuseum“ (Formulierung des Theaters) waren auch zwei Bücher von Karl May mit folgendem Begleittext zu sehen:

Fotos: Anton Potche
Mit Karl May aus der alten in die neue Heimat

In meinem Bücherschrank in der Banater Gemeinde Jahrmarkt standen in den 1970er und 1980er Jahren viele deutsche Bücher aus dem Bukarester Kriterion-Verlag. Auch die zwei Bände Old Surehand – Reiseerzählungen von Karl May waren dabei. Sie sind 1970 erschienen und kosteten zusammen 23,50 Lei (ca. 5,50 €).

Es war aber nicht das einzige Karl-May-Buch, das auf dem Jahrmarkter Büchermarkt gehandelt wurde – unter der Hand, natürlich. Ob vor oder hinter dem Eisernen Vorhang, die Sehnsucht nach der Ferne war die gleiche. Karl May hat sie befriedigt. Seine Bücher passierten immer wieder auch die tödlich gut behütete rumänische Staatsgrenze von West nach Ost, in den 1980er Jahren verbunden mit steigendem Risiko, war dem Diktator die Freiheitssehnsucht seiner Bürger doch mehr und mehr verhasst.

So mancher Zeitgenosse hat aber gerade in jenen Jahren diese Grenze in entgegengesetzter Richtung, also von Ost nach West, bei Nacht und Nebel überwunden: schleichend, laufend, kletternd, kriechend, eingenäht in Schafspelze inmitten einer Schafherde, über die Donau rudernd und, und … Der eine oder andere hätte sein Leben bei diesen abenteuerlichen Fluchtversuchen mit einem Karl-May-Helden an seiner Seite nicht lassen müssen.

Mein Old Surehand hat diese blutigste grenze Europas in einer Holzkiste, in friedlicher Eintracht mit Wäschestücken und Haushaltsartikeln, unbeschadet auf dem Postweg überwunden. Es war zwischen Weihnachten und Neujahr im Jahre des Herrn 1984.

Bücher kommen und gehen, machen sich auch in meinem Bücherschrank den beschränkten Platz streitig, aber Old Surehand, dieser aus dem alten Banat, wird bestimmt erst mit dem Untergang meines Geistes eventuellen Existenznöten ausgesetzt sein. Bis dahin sichert meine Erinnerung an die Sehnsüchte der alten Heimat sein Dasein.

Anton Potche

Dieser Winnetou (Nik Xhelilaj) und sein Blutsbruder Old Shatterhand (Wotan Wilke Möhring) von RTL waren leider nicht die gleichen Karl-May-Helden meiner Kindheit. Die kamen aber zum Glück eine Woche später auf den Bildschirm beim BR: die große Wildwestsaga in drei Teilen mit Pierre Brice als Winnetou und Lex Barker als Old Shatterhand und zwei Teile mit Stewart Granger in der Rolle Old Surehands.

Natürlich drängt sich auch mir nach dem Sehen der acht Filme ein Vergleich auf. Und der kann, wie Kunstbeurteilungen das nun mal so an sich haben, nur subjektiv ausfallen, ganz abgesehen von meinen Erinnerungsbeziehungen zu diesem Stoff.  Habe ich die Karl-May-Filmklassiker der sechziger Jahre als eine Symphonie, gespielt von einem großen Symphonieorchester, empfunden, so kam mir der RTL-Dreiteiler wie eine Orchestrierung der gleichen Symphonie für eine Bläserphilharmonie vor. Gut orchestriert, gut interpretiert, aber dem Original dann doch nur bedingt ebenbürtig.

Anton Potche

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