Um es gleich vorwegzunehmen: Noch nie habe ich für so viel Geld so wenig Literatur oder Sekundärliteratur bekommen. Selber schuld, haben mich die Naturwissenschaftler in meiner Familie gehänselt, als sie erfuhren, wie ich ihren Gutschein für Papas Geburtstag verwertet habe. Geärgert habe ich mich natürlich nicht, denn als ehemaliger Musikant weiß ich längst, dass die gegenseitige Wertschätzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern jener (nicht todernst gemeinten) zwischen Bläsern und Streichern nicht unähnlich ist.
Um aber zur Sache zu kommen: Mein Bücherregal ist nicht gerade arm an Sekundärliteratur über Herta Müller. Aber weil ich gerne bei Hugendubel online bestelle und das Buch dann in der Buchhandlung abhole, habe ich mich auf der Homepage des Händlers mal umgesehen und bin auf eine Studienarbeit über die bekannten, bewunderten und gleichermaßen geächteten Niederungen gestoßen. Es könnte doch interessant sein, zu erfahren, wie Studenten heute aus neutraler Sicht über diese Erzählung denken und schreiben. Auch der erläuternde Untertitel weckte meine Neugierde: Schreiben in der rumänischen Diktatur und Müllers Auseinandersetzung mit der banatschwäbischen Herkunft. Das klang nicht nach einer Fokussierung auf eine Erzählung, die nur eine von 16 in einem Band, der ihren Titel trägt, ist – mit 77 Seiten allerdings die längste. (Herta Müller: Niederungen, Rotbuch Verlag, 1988). Also habe ich das Buch mit einigen Klicks bestellt und mich nach der Lieferungs-E-Mail erwartungsfroh auf den Weg in die Ingolstädter Fußgängerzone gemacht. Schließlich kann man ja bei solchen Gelegenheiten ausgiebig, auch bei einem Kaffee, in der Buchhandlung schmökern.
Dann hielt ich das „Buch“ in der Hand. „Buch?“ das hatte ich
zwar bestellt, aber ohne auf die Seitenzahl zu achten. Mein für 13,99 Euro
gekauftes „Buch“ war ein Paperback-Heftchen mit 19 (neunzehn!) nummerierten
Seiten, insgesamt 24. Ich bestellte mir im Hugendubel-Café ein Haferl Kaffee
und las ... in der FAZ. Das „Buch“ landete zu Hause auf einem Bücherstapel,
befreit von der Plastikhülle und kurz durchgeblättert.
Dann kam eine jener Nächte, in denen ältere Herrschaften
aufwachen und nicht mehr einschlafen können. Es war 1:00 Uhr. Ich schloss die
Schlafzimmertür leise hinter mir, legte mich auf die Couch im Wohnzimmer und
machte mich mit der Studienarbeit des
Nils Marvin Schulz vertraut. Um 4:00
Uhr hatte ich die Untersuchung von Herta
Müllers >Niederungen< studiert. Als einer, der sich beim Lesen immer
Zeit nimmt und schon den ein oder anderen Satz, Abschnitt oder gar Kapitel
zweimal oder sogar öfter liest – meist mit Bleistift und sämtlichen
Wörterbüchern griffbereit -, war ich echt stolz auf diese Leistung. Noch nie
hatte ich ein Buch (auch wenn das hier nur ein Heftchen ist) so schnell
ausgelesen. Wohlgemerkt: mit Unterstreichungen und trotz der frühen
Morgenstunden auch jetzt noch entzifferbaren Anmerkungen.
Der Inhalt könnte für einen Leser, der von Herta Müller nichts oder nur wenig
gehört und gelesen hat, durchaus interessant sein. Für mich war es hingegen
spannend zu erfahren, wo sich die Ausführungen des Autors mit meinen eigenen
Erfahrungen decken. So zum Beispiel, wenn es auf Seite 12 heißt, in den Niederungen „werden die traditionellen
banatschwäbischen Werte ins Groteske entstellt und aus der Perspektive der
kindlichen Außenseiterin als anachronistisch und funktionslos entlarvt“. Bezogen auf die „Perspektive der kindlichen
Außenseiterin“ entziffere ich meine nächtliche Schrift am Seitenrand: „auch
gültig für Jugendliche mit andersnationalen Liebschaften – lebenslange
Traumata“.
Schon auf der nächsten Seite schreibt Nils Marvin Schulz: „Vor den Enteignungen wurde der Vermehrung des
eigenen Besitzes größere Priorität eingeräumt, als Liebeshochzeiten oder die
Ehe mit anderen Nationalitäten.“ Am Seitenrand erkenne ich wieder meine
Handschrift: „starke soziale Kontrolle durch die Dorfgemeinschaft“. Tja, davon
könnte ich nun wirklich ein eigenes Lied singen. (Eine Doina – ein Klagelied).
Und solche Lieder gab und gibt es bestimmt auch heute noch zur Genüge.
Um meine eigenen Erfahrungen zu bedienen, hätte ich mir aber
die 13,99 Euro sparen können. Dazu kam noch, dass ich diese Hausaufgabe der
Vergleichenden Literaturwissenschaft im Fachbereich Germanistik – Komparatistik
mit einer Benotung von 1,3 vorfand. Tatort: Eberhard-Karls-Universität
Tübingen. Das wiederum ergab bei mir die Frage: Was habe ich in meinem Leben
nur falsch gemacht? Ich erinnere mich vage, dass ich damals beim Bakkalaureat
über Marin Predas Moromeții doch auch 10 Seiten mit
kleiner Handschrift zusammengebracht hatte. Hätte ich gewusst, dass man mit so
wenig Geschriebenem so viel Geld verdienen kann, wie das bei dieser Untersuchung über die Niederungen anscheinend der Fall ist, hätte
ich vielleicht nicht knapp drei Jahrzehnte lang in der deutschen
Automobilindustrie schwitzen müssen.
Und was sagen meine Naturwissenschaftler in der Familie zu
meinen Überlegungen? Sie schauen mich weiterhin belustigt an und meinen
grinsend bis an die Ohren: „Ja, ja, die Germanisten.“
Anton Potche
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