Montag, 17. Dezember 2018

Ein etwas anderer Heimatroman

Carmen-Francesca Banciu: Vaterflucht (Roman), Rotbuch Verlag Berlin, 2009; ISBN 978-386789-077-9; [D] 9,90 €, [A] 10,20 €

Dieser Roman beginnt als eine Geschichte der Heimkehr und endet auch als solche. Zwischen dem Anfang und dem ihm fast identischen Ende liegt der Grund für eine Vaterflucht, von der man nicht mehr erfährt als eben dieses eine Wort. Und dabei darf man sich als Leser selber fragen: Ist damit die Flucht des Vaters aus der Familie (Entfremdung) oder die Flucht der Tochter (Ich-Erzählerin) ins Ausland (also weg vom Vater) gemeint?

Vater und Mutter der Ich-Erzählerin, die uns weder ihren Namen noch die ihrer Eltern oder der Großmutter verraten will – wahrscheinlich um nicht zu sehr als das Alter Ego der Autorin wahrgenommen zu werden -, waren Parteibonzen, eine im kommunistischen Rumänien privilegierte, beneidete und verhasste Gesellschaftsschicht. Sie lebten im PCR-Block, ein Wohnblock, in dem nur oder überwiegend Funktionäre der Rumänischen Kommunistischen Partei wohnten.

Michael Girke schrieb am 14. Juli 2016 in der Wochenzeitung DER FREITAG in einem Essay über „eine neue Heimatliteratur“: „Wenn derzeit jemand sich und seine Vergangenheit schreibend zu ergründen trachtet, wird der Begriff Heimat, von dem es heißt, er sei tief und deutsch wie sonst keiner, meist gut sichtbar in Stellung gebracht. […] Kein Zweifel, wir haben es mit einer neuen Welle der Heimatliteratur zu tun, die weder von Ökoromantikern noch von denjenigen, die ideologisch dem rechten Lager zuneigen, ausgeht.“

Das trifft voll und ganz auf Vaterflucht zu, obwohl dieses Büchlein (19 cm x 12 cm) schon vor neun Jahren erschienen ist. Heimat ist darin mit PCR-Block umschrieben, aber was in einer PCR-Familie dieses Heimat-Blocks vorfällt, hat nichts mit national-kommunistischer Romantik zu tun, sondern vielmehr mit national-kommunistischer Ideologie und ihrer menschenverachtenden Wirkung.

Um das Resultat einer ideologischen Erziehung zu schildern, benötigt die 1955 im rumänischen Städtchen Lipova (deutsch: Lippa) geborene Carmen-Francesca Banciu nicht mehr als 128 Seiten. Aber die haben es in sich. Kurze Sätze. Halbsätze. Kommaphobie. Und das liest sich dann so: „Mutters Mutter hat mich nie zu irgendetwas gezwungen. Wir gingen in die Kirche. Wir beteten und knieten nieder. Ein zartes Klingeln hörte man ab und zu. Stimmen und Orgelmusik. Es war schön in der Kirche. Ich betete, dass ich ein Jahr aus meinem Leben schenken darf. Damit er, der große Mann … Großmutter betete, Gott möge mir den Verstand geben, den er meiner Mutter verweigerte.“

Staccatosätze, und gerade dort, wo man es nicht erwartet, auch noch synkopiert. Das ist der richtige Stil, um dem Begriff Heimat jede nostalgische Verklärung auszutreiben. Die Methode ist zwar nicht neu, Herta Müller hat damit höchste literarische Lorbeeren eingefahren, aber immer brauchbar, wenn man von einer verlorenen oder aufgegebenen Heimat mehr als schwärmen will. Auch das hier ist Literatur des Schmerzes, aber keine, die zu Tränen rührt, sondern zornig macht.

Und sie ist aktuell, so furchtbar aktuell, diese Literatur des Schmerzes, wenn es irgendwo heißt: „Es gab neue Dekrete, die der Präsident täglich wie frische Eier auf den Tisch der Partei legte. Er war ein dekretsüchtiger Präsident. Per Dekret wurde das eine oder das andere im Lande von heute auf morgen geregelt. Neu entschieden. Ohne Absprache mit anderen Organen. Der Präsident war allwissend und allmächtig.“ (Nur zur Erinnerung: Die Handlung des Romans spielt in Rumänien zur Zeit Ceaușescus und nicht in der Türkei oder der USA des Jahres 2018.)

Michael Girke bringt in seinem Essay auch Adorno ins Spiel. Bei dem Philosophen der Frankfurter Schule „war der Heimatgedanke nie ohne Wirklichkeitsanalyse, ohne das Sehen von Alltag, Realität und konkretem Leben zu haben.“ Ich kann mir vorstellen, dass der zur Gänze dialogfreie Roman Vaterflucht von Carmen-Francesca Banciu dem Dialektiker Theodor W. Adorno gefallen hätte.

Heimkehr hin oder her: Wenn die Gründe des Weggehens so brutal sind, bleibt für Nostalgie kein Raum. Ja noch schlimmer, vielleicht eckt man in der alten Heimat mit seinen literarischen Aufarbeitungen der Vergangenheit sogar an. Heimkehrer werden nicht per se mit offenen Armen empfangen, wie das Politiker gerne kolportieren. In der rumänischen Literaturzeitschrift ORIZONT, vom April 2009, also dem Erscheinungsjahr von Vaterflucht, kann man auch folgende Bemerkung des Schriftstellers Nicolae Sârbu lesen: „In der Geschichte der rumänischen zeitgenössischen Literatur  von Alex Ștefănescu ist Francesca Banciu aus Deutschland präsent, nicht aber Paul Eugen Banciu aus Temeswar.“ Nicht nur der Volksmund weiß, dass das eigene Hemd meistens (eigentlich immer) dem Ich näher als der Rock ist. Adorno sieht es nicht anders: Realität, Alltag, konkretes Leben. Und Carmen-Francesca Banciu? Sie lebt in Berlin. Ihre namenlose Protagonistin kehrt heim – als Besucherin: „Vater am Bahnhof. Packt meine Koffer. Er scheint sich auf mich zu freuen.“ Sicher ist das aber nicht. Hemd und Rock eben. Ende.
Anton Potche

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