Carmen-Francesca
Banciu: Vaterflucht (Roman), Rotbuch Verlag Berlin, 2009; ISBN
978-386789-077-9; [D] 9,90 €, [A] 10,20 €
Dieser Roman beginnt als eine Geschichte der Heimkehr und
endet auch als solche. Zwischen dem Anfang und dem ihm fast identischen Ende
liegt der Grund für eine Vaterflucht,
von der man nicht mehr erfährt als eben dieses eine Wort. Und dabei darf man
sich als Leser selber fragen: Ist damit die Flucht des Vaters aus der Familie
(Entfremdung) oder die Flucht der Tochter (Ich-Erzählerin) ins Ausland (also
weg vom Vater) gemeint?
Vater und Mutter der Ich-Erzählerin, die uns weder ihren
Namen noch die ihrer Eltern oder der Großmutter verraten will – wahrscheinlich
um nicht zu sehr als das Alter Ego der Autorin wahrgenommen zu werden -, waren
Parteibonzen, eine im kommunistischen Rumänien privilegierte, beneidete und
verhasste Gesellschaftsschicht. Sie lebten im PCR-Block, ein Wohnblock, in dem
nur oder überwiegend Funktionäre der Rumänischen Kommunistischen Partei
wohnten.
Das trifft voll und ganz auf Vaterflucht zu, obwohl dieses Büchlein (19
cm x 12 cm) schon vor neun Jahren erschienen ist. Heimat ist darin mit
PCR-Block umschrieben, aber was in einer PCR-Familie dieses Heimat-Blocks
vorfällt, hat nichts mit national-kommunistischer Romantik zu tun, sondern
vielmehr mit national-kommunistischer Ideologie und ihrer menschenverachtenden
Wirkung.
Um das Resultat einer
ideologischen Erziehung zu schildern, benötigt die 1955 im rumänischen
Städtchen Lipova (deutsch: Lippa) geborene Carmen-Francesca
Banciu nicht mehr als 128 Seiten. Aber die haben es in sich. Kurze Sätze.
Halbsätze. Kommaphobie. Und das liest sich dann so: „Mutters Mutter hat mich
nie zu irgendetwas gezwungen. Wir gingen in die Kirche. Wir beteten und knieten
nieder. Ein zartes Klingeln hörte man ab und zu. Stimmen und Orgelmusik. Es war
schön in der Kirche. Ich betete, dass ich ein Jahr aus meinem Leben schenken
darf. Damit er, der große Mann … Großmutter betete, Gott möge mir den Verstand
geben, den er meiner Mutter verweigerte.“
Staccatosätze, und gerade dort, wo man es nicht erwartet,
auch noch synkopiert. Das ist der richtige Stil, um dem Begriff Heimat jede
nostalgische Verklärung auszutreiben. Die Methode ist zwar nicht neu, Herta Müller hat damit höchste
literarische Lorbeeren eingefahren, aber immer brauchbar, wenn man von einer
verlorenen oder aufgegebenen Heimat mehr als schwärmen will. Auch das hier ist
Literatur des Schmerzes, aber keine, die zu Tränen rührt, sondern zornig macht.
Und sie ist aktuell, so furchtbar aktuell, diese Literatur
des Schmerzes, wenn es irgendwo heißt: „Es gab neue Dekrete, die der Präsident
täglich wie frische Eier auf den Tisch der Partei legte. Er war ein
dekretsüchtiger Präsident. Per Dekret wurde das eine oder das andere im Lande
von heute auf morgen geregelt. Neu entschieden. Ohne Absprache mit anderen
Organen. Der Präsident war allwissend und allmächtig.“ (Nur zur Erinnerung: Die
Handlung des Romans spielt in Rumänien zur Zeit Ceaușescus und nicht in der Türkei oder der USA des Jahres 2018.)
Michael Girke bringt
in seinem Essay auch Adorno ins
Spiel. Bei dem Philosophen der Frankfurter Schule „war der Heimatgedanke nie
ohne Wirklichkeitsanalyse, ohne das Sehen von Alltag, Realität und konkretem
Leben zu haben.“ Ich kann mir vorstellen, dass der zur Gänze dialogfreie Roman Vaterflucht von Carmen-Francesca Banciu dem Dialektiker Theodor W. Adorno gefallen hätte.
Heimkehr hin oder her: Wenn die Gründe des Weggehens so
brutal sind, bleibt für Nostalgie kein Raum. Ja noch schlimmer, vielleicht eckt
man in der alten Heimat mit seinen literarischen Aufarbeitungen der
Vergangenheit sogar an. Heimkehrer werden nicht per se mit offenen Armen
empfangen, wie das Politiker gerne kolportieren. In der rumänischen
Literaturzeitschrift ORIZONT, vom April 2009, also dem Erscheinungsjahr von Vaterflucht, kann man auch folgende
Bemerkung des Schriftstellers Nicolae
Sârbu lesen: „In der Geschichte der
rumänischen zeitgenössischen Literatur
von Alex Ștefănescu ist
Francesca Banciu aus Deutschland präsent, nicht aber Paul Eugen Banciu aus
Temeswar.“ Nicht nur der Volksmund weiß, dass das eigene Hemd meistens
(eigentlich immer) dem Ich näher als der Rock ist. Adorno sieht es nicht anders: Realität, Alltag, konkretes Leben.
Und Carmen-Francesca Banciu? Sie
lebt in Berlin. Ihre namenlose Protagonistin kehrt heim – als Besucherin:
„Vater am Bahnhof. Packt meine Koffer. Er scheint sich auf mich zu freuen.“
Sicher ist das aber nicht. Hemd und Rock eben. Ende.
Anton Potche
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