Mittwoch, 12. Juni 2019

Eine OrgelMatinee mit hoher Qualität und einer erquicklichen Zugabe

Wenn man sich beim Nachdenken über ein eben erlebtes Konzert zuerst Gedanken über die Zugabe macht, dann muss das noch lange nicht heißen, dass das restliche Programm eine mindere Qualität hatte. Der letzte Eindruck hat eben eine größere Chance, im Gedächtnis der Zuhörer zu verweilen und den noch nicht ausgeklungenen Emotionsschwankungen eine längere Lebensdauer zu gewährleisten. So zumindest empfand ich nach einer OrgelMatinee in der Asamkirche Maria de Victoria zu Ingolstadt am 2. Juni dieses Jahres.

Verursacher war die Kantate Filial maestae Jersusalem. Sie stand nicht auf dem Programm und wurde auch nicht gesungen, sondern von Raluca-Diana Bădescu und Samson Gonashvili in wirklich herzergreifender Art und Weise als Zugabe auf ihren Violinen gespielt. Begleitet wurden sie vom AsamCollegium Ingolstadt. Antonio Vivaldi (1678 – 1741) hat dieses wunderschöne Stück Musik mit seiner balladesken Melodik komponiert. Was sich eigentlich schon in der vorausgegangenen Vivaldi-Komposition bemerkbar machte, kam hier in voller Tragweite zum Ausdruck: der Unterschied zwischen der delikaten Bogenführung und dem lieblichen, dahinschmelzenden Ton der Geigerin und dem entschlossenen Saitenstreichen und demzufolge herberen Ton des Geigers. Ein Gedanke an Wein ist in diesem Vergleich nicht verwerflich. Man könnte auch sagen: ein Unterschied zwischen rumänischer und georgischer Geigenschule.

Vivaldi gehört zu den produktivsten Tonschöpfern überhaupt. 49 Opern und um die 300 Konzerte, in denen er fast alle Instrumente mit Solistenrollen bedachte, zeugen davon. Er war auch ein fleißiger Experimentierer und Innovator in Sachen Musik. Umso erstaunlicher ist es, dass dieser Komponist fast gänzlich der Vergessenheit anheimgefallen war. Erst das Zeitalter der Langspielplatte hat ihn wieder aus dieser emporgehoben. Jetzt ist er aber da und so mancher Arrangeur lässt seine Experimentierlust an ihm aus. Il prete rosso hätte bestimmt seine Freude an dieser Entwicklung gehabt - auch an dieser Kantate für Sopran, Filiae maestae Jersusalem RV 638, meisterhaft gespielt von zwei sich ergänzenden und doch so unterschiedlichen Interpreten aus zwei verschiedenen Geigenschulen vom südöstlichen Rande Europas. Text und Musik zusammen stimmen eher traurig: „Betrübte Töchter Jerusalems, seht, der König aller, euer König verwundet und mit Dornen gekrönt …“ Aber die Musik allein, wortlos und in einer Art und Weise tongeschwängert, dass es einem noch tagelang nachgeht? Grandios! Da kam keine Traurigkeit auf. Sie kamen sich nie in die Quere, die zwei Violinen. Zuerst spielte Raluca-Diana Bădescu (ausgebildet in der westrumänischen Stadt Temeswar) das Hauptmotiv und dann wiederholte Samson Gonashvili (Studium an der Musikhochschule in Tiflis) es.

Fotos: Anton Potche
Diese musikalische Symbiose deutete sich schon im vorausgegangenen Stück an, dessen Resonanz beim Publikum erst zur Zugabe führte. Concerto D-Dur für zwei Violinen, Streicher und Basso continuo RV 513 ist ein klassisches Drei-Satz-Konzert von Vivaldi. Und es ist nur eins von vielen, komponiert für zwei Geigen. Von Olivier Forés kann man Allgemeines zu diesen Konzerten Vivaldis für zwei Violinen lesen: „Die Standarten sind aufgepflanzt, die Gaffer machen ihre Bemerkungen, analysieren, vergleichen, stellen Vermutungen an, das Wettbüro hat geöffnet. […] Eine theaterhafte Szene, in der sich zwei einsame Gestalten in einer Gruppe begegnen, sich geringschätzig mustern und zugleich bestärken.“ Eine durchaus ambivalente Einschätzung, würde ich sagen. Wer will schon wissen, wie die zwei Instrumentalisten menschlich zueinander stehen? Ihre Instrumente harmonierten in diesem Konzert auf jeden Fall hervorragend. Das deutete sich schon in den kantilenenhaften Momenten des Allegro molto an, steigerte sich im Andante und Allegro und mündete in … tosenden Applaus und Bravorufe. Die harmonische Wolke, in der sich dieser Melodienzauber bewegte, wurde vom AsamCollegium und Roman Hauser am Cembalo in diskreter, aber Sicherheit vermittelnden Art und Weise in stabiler Lage gehalten. Da war weit und breit kein Unwetter mit Gefahr für Leib und Seele in Sicht.

Eröffnet wurde das Orgelmatinee-Konzert im dreißigsten Jahr dieser Ingolstädter Konzertreihe mit dem Concerto F-Dur für Orgel und Orchester HWV 295 von Georg Friedrich Händel (1685 - 1759). Franz Hauk schreibt im Nachwort des diesjährigen Programmheftes: „1991 kamen Musiker des Georgischen Kammerorchesters aus Tiflis nach Ingolstadt. Was lag näher, als auch dieses Ensemble in die Reihe einzubinden, zum Mozart-Jahr mit einem Zyklus aller Kirchensonaten, ebenfalls mit Werken des Ingolstädter Organisten Franz Stickl und von Eichstätter Hofmusikern. Werke für Orgel und Orchester bildeten von Anfang an einen roten Faden, der sich durch die Jahresprogramme zog. 1992 standen sämtliche Orgelkonzerte von Georg Friedrich Händel auf dem Programm …“ Ich habe in meiner Programmsammlung nachgeschlagen: Damals spielte Manfred Meier, 1991 Preisträger im Fach Orgel beim Musikförderpreis des Konzertvereins Ingolstadt, an der Orgel. Den Orchesterpart hatte das AsamCollegium inne.
vorne v. l.: Samson Gonashvili,
Raluca-Diana Bădescu
Roman Hauser

Diesmal saß Roman Hauser, Hauptorganist an der Jesuitenkirche in Wien, an der 33 Jahre alten Jann-Orgel. Auch er war von Streichern des AsamCollegiums umgeben. Von diesen meist aus den Reihen des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt rekrutierten Musikern war aber am 13. September 1992 keiner dabei. Die Musiker von damals sind fast alle im wohlverdienten Ruhestand. Geblieben ist die musikalische Qualität des „georgischen“ Orchesters mit seinen diversen Gruppierungen. Das war auch bei dieser Händel-Interpretation vernehmbar. Die Streicher des AsamCollegiums agierten geschmeidig, mit gewohnter Präzision und wo nötig mit entsprechender Demut gegenüber den Soloparts der Orgel. Perfekte Intonation und das in jedem Takt  Aufeinander-Eingespielt-Sein waren hörbar, aber nicht sichtbar, denn Orchester und Organist musizierten auf der Empore. Unter tosendem Applaus betraten sie nach dem letzten Akkord des Allegro das Kirchenschiff und das Publikum konnte weiterhin nicht nur lauschen sondern auch sehen, wie Musik entsteht. Das ist immer eine Gewinnsteigerung für Musikliebhaber. So war es auch in diesem Konzert bis zum wundervollen Ende.

Anton Potche

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