Die Moderne ist eine der
Zukunft zugewandte Kunstrichtung. Sie hinterlässt immer wieder ihre
Spuren auch in der Literatur und Musik. Viel von ihr überlebt den
Status des Zeitgenössischen nicht und bleibt vielleicht höchstens
als Modeerscheinung in Erinnerung. Und trotzdem ist sie für den
geistigen Unter- und Überbau jeder Kultur unerlässlich. Sie
garantiert den Fortschritt, ermöglicht das Neue, macht uns hellhörig
und hält uns geistig rege. Ein solches Kunstprodukt der Moderne ist
eine kürzlich bei Coviello Classics erschienene CD. Sie trägt den
etwas verstörenden Titel EL INMORTAL – Works for tuba,
piano and harp. Die drei Protagonisten dieser Produktion sind
Johanna Jung an der Harfe, Yasuko Kagen am Flügel und
Siegfried Jung an der Tuba.
Es gibt viele Arten, Musik zu
hören und zu genießen, was nicht immer dasselbe ist. Du kannst in
ein Konzert gehen oder dir zu Hause Musik per Radio, Fernseher, LP,
CD, USB usw. zu Gemüte führen. Zum Faktor Genießen kann auch ein
gewisser Informationsgrad, ja auch tiefgründiges Wissen zu der
betreffenden Musik gehören. Das Genre spielt dabei keine Rolle. Man
kann sich ein solches Wissen über Konzerteinführungen (z. B. in
Ingolstadt werden sie regelmäßig angeboten), Radio-Features wie
etwa „Leporello“ bei BR Klassik, diverse Fernsehsendungen und,
und, und aneignen. Wer es ganz genau wissen will, kann sich sogar
Radiobiografien in mehreren Serien anhören und sich dabei ins
Seelenleben so mancher Musikergrößen vertiefen. Oder du kannst
einfach lesen, Vitas oder auch Booklets, sofern die einem gewissen
Niveau entsprechen. Und genau das ist bei dieser Produktion der
Fall: Das Booklet und die Musik bilden eine Einheit. Siegfried
Jung kann nämlich nicht nur Tuba spielen, sondern auch
Musikessays schreiben. Dieser Literaturgattung kann man – hie und
da mit individuell geschmacklich bedingten Abstrichen – El
INMORTAL, so auch der
Titel seines Begleittextes, zueignen. Siegfried
Jung schreibt in der
ersten Person, als würde er einen von zu Hause abholen und mit ihm
durch die Entstehungsgeschichte dieser Musikproduktion wandern.
Nichts ist an den Haaren
herbeigezogen, Jung
klingt ehrlich in seinem Monolog und ermöglicht es
dem Zuhörer und
gleichzeitigen Leser, einen imaginären Dialog mit ihm
als Verfasser des Textes zu
führen. Das wiederum verschont den
Verfasser aber auch nicht vor
Widerreden. Ein Werk der Moderne muss das aber allemal aushalten.
Schon
die einleitenden Sätze Jungs
sind vielversprechend: „So verschieden die Werke dieser Produktion
auch sind, sie haben eines gemeinsam: Es ist internationale
Volksmusik vom Feinsten“. Einspruch. Bereits beim ersten Stück war
mir (meinem Geschmack) klar, dass hier nicht von Hoagarten-,
Bierzelt- oder Weihnachtsmarktmusik die Rede ist. Das ist Klassik der
Moderne. In ungewöhnlicher Besetzung. Entstanden aus Länder
und Kontinente
übergreifenden
Volksmusikinspirationen. Und
es sind allesamt Auftragswerke. Auch das durchaus ein
Charakteristikum der Moderne. Oder
man könnte sich auch auf die Bezeichnung „gemäßigte Moderne“,
die mir kürzlich im
Feuilleton aufgefallen ist, einigen.
Auf
jeden Fall
kennt Jung
alle Komponisten dieser Produktion persönlich. Er
ist ihnen irgendwann irgendwo auf der Welt begegnet. Manchmal auch
unter recht abenteuerlich anmutenden Umständen. Wir leben eben im
Zeitalter der Moderne und ihrer Unkonventionalität.
Auch Durchhalten ist eine Charakteristik dieser Stilrichtung. Mehr
als zwei Jahre
hat das Zustandekommen von EL
INMORTAL in Anspruch genommen.
Aber es hat sich gelohnt. Auch für Rezensenten. Denn Jung
macht es ihnen leicht, ja,
verleitet den einen oder
anderen sogar zum fleißigen
Zitieren. Davon will auch ich hier Gebrauch machen.
-
Zum ersten und titelgebenden Stück, El Inmortale von
Gerardo Gardelin,
schreibt Jung: „Gerardo Gardelin bezeichnet den Tango als
unsterblich. Wie modern man ihn auch immer verarbeitet, die
Grundstruktur bleibt erhalten und als Tango identifizierbar.“ Dem
ist so. Wer den Tango als Tanzrhythmus kennt, wird ihn auch hier
unschwer erkennen.
-
Willi März
hat für Siegfried Jung
und seine Frau Johanna
einen „Ländler“
geschrieben (in
Siegfried Jungs
Banater Heimat gehörte der Ländler ins Repertoire jeder Kapelle),
zu dem der Tubabläser
in seinem Essay festhält: „März
inszeniert sein Werk für Tuba und Harfe in sehr freier Harmonik, mit
für den Landler typischen, in Dreiergruppierungen gegliederten
Achtelbewegungen und einem kontrastreichen melodiösen Trio.“
Grotesker Landler
heißt dieses Stück. Dass etwas Groteskes so schön sein kann,
hätte ich mir nie gedacht.
-
Zur Moderne, ob
gemäßigt oder radikal,
gehört auch die Kuriosität. Und die fehlt nicht auf dieser
Einspielung. Zum dritten Werk heißt es: „Musikalisch und
geografisch sehr weit von Deutschland und Argentinien entfernt
befinden wir uns mit Corazón de la Fiesta für Tuba und
Klavier, trotz spanischem Titel,
in Japan.“ Der Komponist Yojiro
Minami „lässt die Tuba
durch japanische Volksweisen tanzen und legt größten Wert auf
musikantische Spielweisen.“ Und wer hat seinen Spaß daran? Die
Pianistin Yasuko Kagen
und der Tubist Siegfried
Jung.
-
Viertes Stück. Dem
ist nun wirklich der Volksmusikcharakter nicht abzuerkennen, ich
würde gar sagen, das ist das einzige reine Volksmusikstück auf
dieser Scheibe: Sabin
Pautza – Joc
de doi din Banat. Und wie macht
man das in einem Essay neugierigen Musikliebhabern (die Rumänen
sprechen von „melomani“, aber auch von „melomanie“, worunter
sie „Musikwut“ verstehen – uff) schmackhaft? Vielleicht so:
„Das Banat liegt im Westen
Rumäniens und war Teil des K&K-Reiches
Österreich-Ungarn, wo es deutsche Ansiedlungen gab. Ich stamme von
dort und pflege die Verbindung zu dieser Region, ebenso wie Sabin
Pautza, der nach über dreißig Jahren aus den USA in seine Heimat
zurückgekehrt ist und zu den bedeutendsten rumänischen Komponisten
zählt.“ Er arrangierte „sein Werk für Tuba, begleitet von Harfe und Klavier
auf meinen Wunsch“, schreibt Jung. Da haben sich anscheinend zwei
gefunden.
Das nennt man wohl generationenübergreifende
Moderne. Der suchende,
vorwärts strebende,
junge Instrumentalist
und der etablierte Komponist,
dessen Name
schon ein internationales
Musikfestival
in
der rumänischen Stadt Reșița
/ Reschitza trägt.
-
Und wenn wir schon in
Südosteuropa sind, gehört sich auch ein ungarisches Werk ins
Programm, denn nichts ist spannender als musikalische Grenzregionen.
Jung
erzählt
uns von diesem Spannungsverhältnis zwischen friedlich und wild:
„Angelehnt an den in Ungarn
und Siebenbürgen beheimateten Csárdás mit seiner speziellen
Dramaturgie von langsam (lassú) bis hin zu sehr schnell (friss) ist
auch das Tempo in der Ungarischen Fantasie
von Andrea Csollány
zunächst sehr zurückhaltend, die Musik improvisiert sich
gewissermaßen selbst.“
-
Die Moderne erträgt auch Erzählungen aus der Vergangenheit, die
großen Dramen des Individuums. My Bonny Land
ist das musikalische Ergebnis einer solchen Geschichte.
Wie der englische Komponist John
Frith diese Geschichte
polyfonisch
(wenn auch nur mit zwei
Instrumenten) erzählt,
kann man am besten verstehen, wenn man Jungs
Anmerkungen dazu liest:
„My Bonny Land handelt
von einer verzweifelten Frau, die sich bei einem Segler am Kai
über den Verbleib ihres Ehemanns, der Fischer ist, erkundigt. Der
Segler gibt ihr zu verstehen dass ihr Ehemann in einem grünen, aber
nicht grasbewachsenen Grab liege und sie werde niemals neben ihm
liegen können.“ Gute Musik erkennt man oft auch daran, dass sie in
einem Erinnerungen wach rufen kann. So fiel mir bei dieser Geschichte
und ihrer musikalischen Umsetzung ein in den Hohen Tauern miterlebtes
Ereignis ein. Eine Bergbäuerin rief dem mit einer Wanderergruppe
nahenden Ranger schon von weitem zu, er möge doch bitte seinen
Feldstecher aufbauen und nach ihrem Mann Ausschau halten. „Da oben
müsste er sein. Er ist schon so lange weg.“ Ich verspüre heute
noch Gänsehaut, wenn ich daran zurückdenke. Es ging damals gut aus.
- Als siebentes Stück hat
Jung zusammen mit Kagen eine American Fantasy „A
Tribute to Stephan Foster“ von Michael Schneider
eingespielt. Im Booklet erfahren wir Details über diese Komposition
und auch so manches über die amerikanische Folk-Musik. Zur hier
vorgelegten Bearbeitung für Tuba und Klavier heißt es, dass
Schneider die Tuba „in den Melodien Fosters schwelgen“ lässt,
aber auch das Klavier nicht zu kurz kommt und mit einer „eigenen
Kadenz“ bedacht wird. Und schön,
aber zu kurz kommt das seit 1848 in den USA gesungene, von Stephen
Foster komponierte und längst zum Volkslied geadelte Oh!
Susanna daher. Somit wären wir aber wieder bei der Volksmusik, wenn auch in einer
klassischen Veredelung.
-
Ähnliches gilt auch für das letzte Werk dieser Produktion. Willi
März zeichnet für Dance
agile und Siegfried
Jung klärt uns auf, ohne
belehrend zu klingen. „Mit
dem Danse agile zeichnet
Willi März ein im besten Sinne konventionelles Virtuosenstück im
Charakter der Salonmusik des späten 19. und frühen 20.
Jahrhunderts. [...] Es überrascht daher nicht, dass feurige
Passagen, wie sie von der Musik des Balkans
vertraut sind, mit eleganter, salonhaft französischer Harmonik, vor
allem im ruhigen Mittelteil, kombiniert werden.“
Wer
Musik als hochkarätigen Kulturakt und nicht nur als angenehme, im
Hintergrund laufende Geräuschkulisse wahrnehmen will, sollte es vielleicht mal mit
diesem Gesamtwerk aus Ton und Information versuchen. Man kann die CD
über den Homepage-Shop von Siegfried
Jung
bestellen. (https://www.siegfriedjung.de/shop/
).
Im Handel wird die Scheibe ab Mitte Dezember, also noch rechtzeitig
vor Weihnachten, vorrätig sein.
Anton
Potche
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