Montag, 9. Dezember 2019

Eine CD der Moderne mit ungewöhnlicher Volksmusik


Die Moderne ist eine der Zukunft zugewandte Kunstrichtung. Sie hinterlässt immer wieder ihre Spuren auch in der Literatur und Musik. Viel von ihr überlebt den Status des Zeitgenössischen nicht und bleibt vielleicht höchstens als Modeerscheinung in Erinnerung. Und trotzdem ist sie für den geistigen Unter- und Überbau jeder Kultur unerlässlich. Sie garantiert den Fortschritt, ermöglicht das Neue, macht uns hellhörig und hält uns geistig rege. Ein solches Kunstprodukt der Moderne ist eine kürzlich bei Coviello Classics erschienene CD. Sie trägt den etwas verstörenden Titel EL INMORTAL – Works for tuba, piano and harp. Die drei Protagonisten dieser Produktion sind Johanna Jung an der Harfe, Yasuko Kagen am Flügel und Siegfried Jung an der Tuba.

Es gibt viele Arten, Musik zu hören und zu genießen, was nicht immer dasselbe ist. Du kannst in ein Konzert gehen oder dir zu Hause Musik per Radio, Fernseher, LP, CD, USB usw. zu Gemüte führen. Zum Faktor Genießen kann auch ein gewisser Informationsgrad, ja auch tiefgründiges Wissen zu der betreffenden Musik gehören. Das Genre spielt dabei keine Rolle. Man kann sich ein solches Wissen über Konzerteinführungen (z. B. in Ingolstadt werden sie regelmäßig angeboten), Radio-Features wie etwa „Leporello“ bei BR Klassik, diverse Fernsehsendungen und, und, und aneignen. Wer es ganz genau wissen will, kann sich sogar Radiobiografien in mehreren Serien anhören und sich dabei ins Seelenleben so mancher Musikergrößen vertiefen. Oder du kannst einfach lesen, Vitas oder auch Booklets, sofern die einem gewissen Niveau entsprechen. Und genau das ist bei dieser Produktion der Fall: Das Booklet und die Musik bilden eine Einheit. Siegfried Jung kann nämlich nicht nur Tuba spielen, sondern auch Musikessays schreiben. Dieser Literaturgattung kann man – hie und da mit individuell geschmacklich bedingten Abstrichen – El INMORTAL, so auch der Titel seines Begleittextes, zueignen. Siegfried Jung schreibt in der ersten Person, als würde er einen von zu Hause abholen und mit ihm durch die Entstehungsgeschichte dieser Musikproduktion wandern. Nichts ist an den Haaren herbeigezogen, Jung klingt ehrlich in seinem Monolog und ermöglicht es dem Zuhörer und gleichzeitigen Leser, einen imaginären Dialog mit ihm als Verfasser des Textes zu führen. Das wiederum verschont den Verfasser aber auch nicht vor Widerreden. Ein Werk der Moderne muss das aber allemal aushalten.

Schon die einleitenden Sätze Jungs sind vielversprechend: „So verschieden die Werke dieser Produktion auch sind, sie haben eines gemeinsam: Es ist internationale Volksmusik vom Feinsten“. Einspruch. Bereits beim ersten Stück war mir (meinem Geschmack) klar, dass hier nicht von Hoagarten-, Bierzelt- oder Weihnachtsmarktmusik die Rede ist. Das ist Klassik der Moderne. In ungewöhnlicher Besetzung. Entstanden aus Länder und Kontinente übergreifenden Volksmusikinspirationen. Und es sind allesamt Auftragswerke. Auch das durchaus ein Charakteristikum der Moderne. Oder man könnte sich auch auf die Bezeichnung „gemäßigte Moderne“, die mir kürzlich im Feuilleton aufgefallen ist, einigen.

Auf jeden Fall kennt Jung alle Komponisten dieser Produktion persönlich. Er ist ihnen irgendwann irgendwo auf der Welt begegnet. Manchmal auch unter recht abenteuerlich anmutenden Umständen. Wir leben eben im Zeitalter der Moderne und ihrer Unkonventionalität. Auch Durchhalten ist eine Charakteristik dieser Stilrichtung. Mehr als zwei Jahre hat das Zustandekommen von EL INMORTAL in Anspruch genommen. Aber es hat sich gelohnt. Auch für Rezensenten. Denn Jung macht es ihnen leicht, ja, verleitet den einen oder anderen sogar zum fleißigen Zitieren. Davon will auch ich hier Gebrauch machen.

- Zum ersten und titelgebenden Stück, El Inmortale von Gerardo Gardelin, schreibt Jung: „Gerardo Gardelin bezeichnet den Tango als unsterblich. Wie modern man ihn auch immer verarbeitet, die Grundstruktur bleibt erhalten und als Tango identifizierbar.“ Dem ist so. Wer den Tango als Tanzrhythmus kennt, wird ihn auch hier unschwer erkennen.
- Willi März hat für Siegfried Jung und seine Frau Johanna einen „Ländler“ geschrieben (in Siegfried Jungs Banater Heimat gehörte der Ländler ins Repertoire jeder Kapelle), zu dem der Tubabläser in seinem Essay festhält: „März inszeniert sein Werk für Tuba und Harfe in sehr freier Harmonik, mit für den Landler typischen, in Dreiergruppierungen gegliederten Achtelbewegungen und einem kontrastreichen melodiösen Trio.“ Grotesker Landler heißt dieses Stück. Dass etwas Groteskes so schön sein kann, hätte ich mir nie gedacht.
- Zur Moderne, ob gemäßigt oder radikal, gehört auch die Kuriosität. Und die fehlt nicht auf dieser Einspielung. Zum dritten Werk heißt es: „Musikalisch und geografisch sehr weit von Deutschland und Argentinien entfernt befinden wir uns mit Corazón de la Fiesta für Tuba und Klavier, trotz spanischem Titel, in Japan.“ Der Komponist Yojiro Minami „lässt die Tuba durch japanische Volksweisen tanzen und legt größten Wert auf musikantische Spielweisen.“ Und wer hat seinen Spaß daran? Die Pianistin Yasuko Kagen und der Tubist Siegfried Jung.
- Viertes Stück. Dem ist nun wirklich der Volksmusikcharakter nicht abzuerkennen, ich würde gar sagen, das ist das einzige reine Volksmusikstück auf dieser Scheibe: Sabin PautzaJoc de doi din Banat. Und wie macht man das in einem Essay neugierigen Musikliebhabern (die Rumänen sprechen von „melomani“, aber auch von „melomanie“, worunter sie „Musikwut“ verstehen – uff) schmackhaft? Vielleicht so: „Das Banat liegt im Westen Rumäniens und war Teil des K&K-Reiches Österreich-Ungarn, wo es deutsche Ansiedlungen gab. Ich stamme von dort und pflege die Verbindung zu dieser Region, ebenso wie Sabin Pautza, der nach über dreißig Jahren aus den USA in seine Heimat zurückgekehrt ist und zu den bedeutendsten rumänischen Komponisten zählt.“ Er arrangierte „sein Werk für Tuba, begleitet von Harfe und Klavier auf meinen Wunsch“, schreibt Jung. Da haben sich anscheinend zwei gefunden. Das nennt man wohl generationenübergreifende Moderne. Der suchende, vorwärts strebende, junge Instrumentalist und der etablierte Komponist, dessen Name schon ein internationales Musikfestival in der rumänischen Stadt Reșița / Reschitza trägt.
- Und wenn wir schon in Südosteuropa sind, gehört sich auch ein ungarisches Werk ins Programm, denn nichts ist spannender als musikalische Grenzregionen. Jung erzählt uns von diesem Spannungsverhältnis zwischen friedlich und wild: „Angelehnt an den in Ungarn und Siebenbürgen beheimateten Csárdás mit seiner speziellen Dramaturgie von langsam (lassú) bis hin zu sehr schnell (friss) ist auch das Tempo in der Ungarischen Fantasie von Andrea Csollány zunächst sehr zurückhaltend, die Musik improvisiert sich gewissermaßen selbst.“
- Die Moderne erträgt auch Erzählungen aus der Vergangenheit, die großen Dramen des Individuums. My Bonny Land ist das musikalische Ergebnis einer solchen Geschichte. Wie der englische Komponist John Frith diese Geschichte polyfonisch (wenn auch nur mit zwei Instrumenten) erzählt, kann man am besten verstehen, wenn man Jungs Anmerkungen dazu liest: „My Bonny Land handelt von einer verzweifelten Frau, die sich bei einem Segler am Kai über den Verbleib ihres Ehemanns, der Fischer ist, erkundigt. Der Segler gibt ihr zu verstehen dass ihr Ehemann in einem grünen, aber nicht grasbewachsenen Grab liege und sie werde niemals neben ihm liegen können.“ Gute Musik erkennt man oft auch daran, dass sie in einem Erinnerungen wach rufen kann. So fiel mir bei dieser Geschichte und ihrer musikalischen Umsetzung ein in den Hohen Tauern miterlebtes Ereignis ein. Eine Bergbäuerin rief dem mit einer Wanderergruppe nahenden Ranger schon von weitem zu, er möge doch bitte seinen Feldstecher aufbauen und nach ihrem Mann Ausschau halten. „Da oben müsste er sein. Er ist schon so lange weg.“ Ich verspüre heute noch Gänsehaut, wenn ich daran zurückdenke. Es ging damals gut aus.
- Als siebentes Stück hat Jung zusammen mit Kagen eine American Fantasy „A Tribute to Stephan Foster“ von Michael Schneider eingespielt. Im Booklet erfahren wir Details über diese Komposition und auch so manches über die amerikanische Folk-Musik. Zur hier vorgelegten Bearbeitung für Tuba und Klavier heißt es, dass Schneider die Tuba „in den Melodien Fosters schwelgen“ lässt, aber auch das Klavier nicht zu kurz kommt und mit einer „eigenen Kadenz“ bedacht wird. Und schön, aber zu kurz kommt das seit 1848 in den USA gesungene, von Stephen Foster komponierte und längst zum Volkslied geadelte Oh! Susanna daher. Somit wären wir aber wieder bei der Volksmusik, wenn auch in einer klassischen Veredelung.
- Ähnliches gilt auch für das letzte Werk dieser Produktion. Willi März zeichnet für Dance agile und Siegfried Jung klärt uns auf, ohne belehrend zu klingen. „Mit dem Danse agile zeichnet Willi März ein im besten Sinne konventionelles Virtuosenstück im Charakter der Salonmusik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. [...] Es überrascht daher nicht, dass feurige Passagen, wie sie von der Musik des Balkans vertraut sind, mit eleganter, salonhaft französischer Harmonik, vor allem im ruhigen Mittelteil, kombiniert werden.“

Wer Musik als hochkarätigen Kulturakt und nicht nur als angenehme, im Hintergrund laufende Geräuschkulisse wahrnehmen will, sollte es vielleicht mal mit diesem Gesamtwerk aus Ton und Information versuchen. Man kann die CD über den Homepage-Shop von Siegfried Jung bestellen. (https://www.siegfriedjung.de/shop/ ). Im Handel wird die Scheibe ab Mitte Dezember, also noch rechtzeitig vor Weihnachten, vorrätig sein.
Anton Potche

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