KW 6 – die sechste
Kalenderwoche 2020. Was war das für eine verrückte politische
Woche? In Deutschland, aber nicht nur. Und die Mitte der Woche, also
der Mittwoch, war für das Chaos ausersehen, Zeit genug, um das
Geschehene bis zum medial am besten bestückten Wochenende auszuleben
(oder -sterben), zu analysieren, neue Positionen zu beziehen, in
Selbstmitleid zu zerfließen oder Schadenfreude zu zelebrieren.
Kollateralschäden sind natürlich auch zu vermerken. Das wäre
eigentlich gar nicht so schlimm, gäbe es da nicht diesen einzigen
großen Schaden: eine beschädigte Demokratie.
Und das kam so. Das deutsche
Bundesland Thüringen hatte im Oktober 2019 eine Landtagswahl zu
bestreiten. Und die Aufgabe, die der Souverän, also der Wähler,
nach der Wahl den Politikern zur Lösung vorlegte, sah so aus: Bildet
eine Regierung aus folgender Sitzverteilung im aus 90 Parlamentariern
bestehenden Landtag: Die Linke – 29, AfD
– 22, CDU – 21, SPD – 8, Grüne
– 5, FDP – 5. Gar nicht so leicht, denn, wie immer
man es auch drehen mochte, eine Mehrheit kam nicht zustande, wollte
doch mit der als rechtsextrem stigmatisierten Alternative für
Deutschland, die in Thüringen auch noch von dem ultrarechten
„Flügel“ des Björn Höcke beherrscht wird, keine der
anderen Parteien koalieren. Aber auch das bis dahin bestehende
rot-rot-grüne Regierungsbündnis (seit 2014) unter der Führung des
Linken Bodo Ramelow wollten die Oppositionsparteien nicht ums
Verrecken weiter in der Thüringer Machtzentrale sehen. Um
einigermaßen sorgenlos regieren zu können sind in diesem Parlament
mindestens 46 Unterstützer notwendig. Die Verfassung sieht für die
Wahl des Ministerpräsidenten drei Wahlgänge vor. In den ersten
beiden gilt für den Sieger die 46-Stimmen-Marke, also die absolute
Mehrheit. Im dritten Wahlgang genügt dann eine einfache Mehrheit,
der Kandidat mit den meisten Stimmen wird Ministerpräsident. In die
ersten zwei Wahlgänge schickten nur die zwei zahlenmäßig stärksten
Parteien ihre Kandidaten: Bei Die Linke war es Bodo
Ramelow und bei der AfD Christoph Kindervater.
Im ersten Wahlgang sah das Ergebnis so aus: 43 zu 25 bei 22
Enthaltungen für Bodo Ramelow. Beim zweiten Versuch brachte
der noch amtierende Ministerpräsident es immerhin auf 44 Ja-Stimmen
bei 22 für den Herausforderer und 24 Enthaltungen. Also war ein
dritter Wahlgang angesagt, nämlich der entscheidende mit der
einfachen Mehrheit. Und da zündete die AfD ihre
Stinkbombe. Ein dritter Bewerber stellte sich zur Wahl: Thomas
Kämmerich von der FDP. Er bekam 45 Stimmen und
Bodo Ramelow nur 44, ein Parlamentarier hatte sich enthalten,
während der AfD-Kandidat leer ausging.
Thomas Kämmerich hat
die Wahl angenommen und ist neuer Ministerpräsident des deutschen
Bundeslandes Thüringen. Seine Stimmen bekam er von seinen 4
FDP-Kollegen, (wahrscheinlich) 18 CDU-Mitgliedern und den …
(wahrscheinlich) 22 AfD-Parlamentariern. Ein Wahlberechtigter hatte
sich enthalten. Das alles bei der Annahme, dass Linke-, Grüne- und
SPD-Abgeordnete ihre Stimmen Ramelow gegeben haben. Alles
klar? Die AfD-Leute haben in corpore den FDP-Mann gewählt. (Die
Wahlgänge waren natürlich geheim.) Kaum hatte Kämmerich die
Wahl angenommen brach der Proteststurm los. Und er fegte durch alle
Täler und über alle Gipfel der deutschen Politiklandschaft und
natürlich durch alle Medien sowie die sozialen Netzwerke. Von
Dammbruch war die Rede, Tabubruch, unverzeihlichen Fehlern, perfidem
Trick, braunem Thüringen, einem Land „über dem intensive Gerüche
nach Kot und Höcke liegen“ (taz), Attribute wie schändlich,
peinlich, geschichtsvergessen, machtversessen, irrlichternd,
orientierungslos, Steigbügelhalter und, und, und, wurden bemüht. Zielscheibe Nr. 1 war Thomas Kämmerich.
Nur,
fragt sich der emotional nicht eingebundene Beobachter, gibt es da
nicht einige Ungereimtheiten, die auch andere Beurteilungen zulassen?
Wieso schickt die AfD-Landtagsfraktion einen unbekannten Kandidaten
ins Rennen, der gar kein Mitglied der AfD
ist? Und
vor allem, wieso lässt das die FDP
und die CDU
nicht misstrauisch werden? Hat es da jemand versäumt, alle
Wahlergebnismöglichkeiten durchzugehen? (Christoph
Kindervater ist
nicht einmal Mitglied des Thüringer Landtages. Im Artikel 70, Absatz
3 der Verfassung dieses Bundesstaates kann man zur Wahl des
Ministerpräsidenten lediglich lesen: „Der
Ministerpräsident
wird
vom Landtag mit
der
Mehrheit seiner
Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt.
Erhält
im
ersten Wahlgang niemand diese Mehrheit,
so
findet ein
neuer Wahlgang statt.
Kommt
die
Wahl auch im zweiten Wahlgang nicht zustande,
so
ist gewählt,
wer
in einem weiteren Wahlgang
die meisten Stimmen erhält.“
Wer überhaupt zu welchen Bedingungen für die Wahl ins höchste Amt
des Landes zugelassen ist, wird in der Verfassung nicht präzisiert,
was eine Erklärung für das Auftauchen Christoph
Kindervaters
in dieser Politposse sein
kann.)
Eine
weitere Frage könnte sein: Macht es Sinn, einen FDP-Kandidaten ins
Rennen zu schicken, ohne vorher mit eventuellen Unterstützern
darüber gesprochen zu haben? Keine sich demokratisch nennende Partei
in diesem Land – damit meine ich ganz Deutschland – will mit
Stimmen der AfD
an die Macht, heißt es vor Kameras und Mikrofonen. Das muss in
Hinterzimmern nicht zwingend auch so sein. Diese Variante des
politischen vor der Öffentlichkeit camouflierten Taktierens führt
im Falle Thüringen zu einer weiteren Frage: Warum hat die FDP
mit ihrem Kandidaten bis in die dritte Runde gewartet? Fragen,
die wohl erst von der Geschichte nach Jahren beantwortet werden
können, denn jetzt wird von allen Seiten gelogen, dass sich die
Balken biegen.
Die
Abgeordneten
der AfD
sind
natürlich neben Kämmerich
auch die bösen Buben. Dabei haben sie doch gar nichts
verfassungswidriges gemacht. Sie waren, mal ganz abgesehen von ihrer
Gesinnung, nur cleverer als die Gruppe der etablierten Parteien. Die
wiederum sind in ihren ideologischen Fallstricken so verheddert,
dass
sie die große Chance, die in diesem Coup der blauen Alternativen
liegt, überhaupt nicht erkennen können. Was würde Thüringen denn
abgehen, wenn es ab sofort von einem FDP-Ministerpräsidenten,
unterstützt von patriotisch gesinnten Linken-, SPD-, Grünen- und
CDU-Ministern, regiert würde. Da wäre ich verdammt neugierig, ob
die AfD
mit ihrem Höcke
nach fünf Jahren noch einen Fuß in die Tür des Erfurter Landtags
bekommen
würde.
Leider
haben solche Ansinnen, sosehr sie auch den Bürgerwillen
transportieren, nur im Reich der politischen Utopie Platz. Und das
verdanken wir einem schlechten Demokratieverständnis, das seine
üble Fratze
von den Kommunen bis ins Parlament in Berlin immer
wieder zeigt. Demokratie sollte mehr sein als die legitimierte
Möglichkeit, übereinander herzufallen, mehr als Neid, Missgunst, zementierte
Gegnerschaft, ja sogar Hass. Sie sollte vor allem die Quintessenz
aller Möglichkeiten sein, für den Souverän das Beste aus der
politischen Auseinandersetzung herauszuschlagen. Und das heißt vor
allem auch, die Kunst des Verzichts zu üben und zu lernen. Nicht ich
als Politiker darf der Mittelpunkt allen gesellschaftlichen
Geschehens sein, sondern lediglich ein Teil dessen. Zwar ein sehr
wichtiger,
aber immerhin nur ein Teil.
Das
Problem in Thüringen, und nicht nur dort, ist weniger die AfD
als vielmehr die mangelnde – um nicht zu sagen nicht vorhandene –
Kompromissbereitschaft der Parteien der Mitte, wie sie sich gerne
nennen. Die haben in den letzten Jahren ein selbstzerfleischendes
Ausgrenzungstrauma gegen links und rechts entwickelt und sind
gleichzeitig nicht fähig ihre Stellung in der Mitte der Gesellschaft
zu festigen. Dabei schmeißen sie in an Absurdität grenzende
Einsichtlosigkeit
sogar Die
Linke
und die AfD
in einen Topf. Diese
Politiker der Mitte sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass
sie Radikalität und
Anders-Denken nicht mehr voneinander unterscheiden können. Sie
wollen immer noch nicht wahrnehmen, dass Die
Linke
längst eine in diesem Land angekommene Partei,
aber keineswegs eine extremistische Gruppierung ist. Davon, dass
neuen Parteien
mit Ablehnung im politischen Orchester begegnet wird – da können
sie sich noch so sehr um Wohlklang und Harmonie bemühen -, können
die Grünen
ein Liedchen singen. Fakt
ist, dass die Parteien der Mitte sich mit ihren starren
Grenzziehungen keinen Dienst erweisen. Sie scheinen die
Beschleunigungsprozesse in der Politik verschlafen zu haben und
gefährden sich dadurch selber. Götz
Aly
nennt eines seiner Bücher Volk
ohne Mitte.
Das hatten wir schon mal. Und
das
Resultat ist hinlänglich bekannt.
Die
Gefahr
zu erkennen, eines
Tages ohne Mitte dazustehen, scheint
die große Herausforderung
des Politikbetriebs zu sein. Nicht nur bei uns, sondern überall in
der Welt. Es ist müßig Namen wie Trump,
Kaczyński,
Erdogan,
Orbán
u.a. zu nennen. Wo man hinschaut, erkennt man Machtanhäufung statt
Machtteilung. Und dort, wo diktatorische Strukturen noch nicht zu
erkennen sind, mangelt es an Demokratieverständnis ... Fortsetzung
folgt.
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Die
Rumänen zum Beispiel haben in den letzten vier Jahren
vier Regierungswechsel über sich ergehen lassen müssen. Am
Mittwoch der vergangenen Woche fand auch in Bukarest eine Politsatire
statt, die der in Thüringen um nichts nachsteht. Die Regierung Orban
(weder verschwägert noch verwandt mit dem oben erwähnten Orbán)
wurde nach nicht einmal drei Monaten im Amt durch ein
Misstrauensvotum gestürzt - auch
von Politikern, die ihr erst kürzlich ins Amt verholfen hatten
-,
um am nächsten Tag von Präsident Klaus
Johannis
wieder als Interimsregierung mit allen Ministern eingesetzt zu
werden. Auch dort zankt man sich heftig um das Für und Wider einer
Neuwahl und
vor allem um die Fragen, wer
mit wem darf
oder kann oder
will
und
wer nicht.
Dort
wird jetzt spekuliert, ob die Orban-Partei PNL
ihre eigene
Regierungsriege
mit einem neuen Misstrauensvotum aus dem Amt hebelt, um
verfassungsmäßige
Neuwahlen herbeizuführen, wo
ihnen die Umfragewerte zurzeit doch einen grandiosen Wahlsieg
verheißen.
(So etwas haben die rumänischen Sozialdemokraten schon einmal vor
zwei Jahren geschafft – nämlich ihren eigenen Premier per
Misstrauensvotum zu stürzen.) Ob
solche
politischen Schachzüge aus
rationalen oder irrationalen Gründen gemacht
werden, ist
nur schwer zu erkennen und
für die politischen Strippenzieher sowieso belanglos. Wichtig bleibt
der Erhalt der eigenen Position oder
deren Festigung und
die
damit verbundene Privilegiensicherung ... Fortsetzung
folgt.
Anton
Potche
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