Montag, 18. Mai 2020

Magische Gestalten der Zwischenkriegszeit

Mircea Eliade: Auf der Mântuleasa-Straße; Aus dem Rumänischen von Edith Horowitz-Silbermann; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1972; ISBN 3-518-01328-9; bei Amazon gibt es Exemplare von 6,56 € bis 18,00 € (Stand 18.05.2020)

Täsch ist eine Gemeinde im deutschsprachigen Teil des Kantons Wallis in der Schweiz. Hier beginnt der rumänische Religionswissenschaftler, Philosoph und Schriftsteller Mircea Eliade an einer Prosaarbeit zu schreiben: Auf der Mântuleasa-Straße. Das war im August 1955. Im November 1967 bekommt das epische Kunststück seinen letzten Satz … in Chicago.

Zwölf Jahre Arbeit an einem Roman. Wer nun auf einen 1000-Seiten-Schinken tippt, wird enttäuscht. Der Roman ist nicht mehr als eine umfassende Erzählung, die es aber auf 167 Seiten in sich hat. Irrungen und Wirrungen ohne Ende. Was dazu führte, dass Kritiker auch von einer „fantastischen Novelle“ reden. Die zwölf Jahre Schreibzeit sollen auch von einer oder mehreren Schreibunterbrechungen gekennzeichnet gewesen sein. Vielleicht konnte der in jungen Jahren faschistisch gesinnte Eliade sich nur schwer zwischen der Siguranța (Geheimdienst der Antonescu-Diktatur) und der Securitate (Geheimdienst der kommunistischen Diktatur) entscheiden. Die Ehre bekam dann die Securitate. Der wiederum hat diese Wertschätzung gar nicht gefallen, so dass der in 15 Sprachen übersetzte Text zuerst in Französisch und Deutsch als Buch herauskam, bevor er in der Anthologie În curte la Dionis (Im Hof bei Dionysos) – mir ist davon keine deutsche Fassung bekannt – in seiner Originalsprache Rumänisch veröffentlicht wurde. Es ist staunenswert genug, dass das Buch überhaupt noch zur Regierungszeit Ceaușescus erscheinen konnte, und zwar 1981 im Bukarester Verlag Cartea Românească.

Im Zentrum der Handlung steht der pensionierte Schuldirektor einer Schule in der Mântuleasa-Straße, und um ihn scharen sich verschiedene Figuren aus Geheimdienst und Behörden. Alle wollen von ihm jeweils anderes, ihren eigenen Interessen entsprechendes Wissen. Und alle werden von dem alten Mann vorgeführt. Nicht genug, dass seine Schilderungen sich auf Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, stützen und seine Protagonisten zum Teil Personen mit magischen Eigenschaften sind; seine Art, von einem Detail ins andere zu gleiten, bringt die ihn Verhörenden auch um die letzte Portion Geduld. Bei Schuldirektor a. D. Zaharia Fărâmă klingt das dann so: „Aber das ist nichts, gemessen an dem, was ich in Câmpulung gesehen habe.“ Und schon ist er auf einer anderen Schiene. Und die, die Ausdauer der Vernehmer strapazierenden, Ausschweifungen rechtfertigt er dann so: „Wie soll ich Ihnen die Fortsetzung erzählen, ohne zurückzugreifen und über Lixandru und Darvari zu sprechen, über die neuen Freundschaften, die sie in Fănică Tunsus Schenke geschlossen haben? Denn es ist eine lange Geschichte, und um sie zu verstehen, müßten Sie wissen, was Dragomir und Zamfira passiert ist.“ Das sind köstliche Passagen, wenn man sich dabei die ungeduldigen Fratzen der Fragesteller vorstellt.

Während dieser „langen Geschichten“ kollidieren die Interessen der den Alten ausforschenden Personen. Es kommt zu gegenseitigen Verdächtigungen, einer Amtsenthebung und sogar zu einem Selbstmord. Nur Fărâmă bleibt zum Schluss mit seinen fantastischen Erzählungen von einer Parallelwelt unter den Straßen Bukarests ohne größeren Schaden zurück - vielleicht wegen den Verhören und den vielen Schreibereien schneller gealtert.

Alle diese handelnden Figuren wirken ziemlich blass im Vergleich zu denen aus Fărâmăs Erinnerungen. Da schillert es nur so von magischem Realismus, wenn es an einer Stelle heißt. „So waren alle Zeuge, wie Oana mit flatternden Haaren nackt über den Bergkamm rannte und der Stier hinterdrein. Sie sahen, wie Oana plötzlich im Laufen innehielt, sich vornüber beugte und dann laut aufschrie, wenn der Stier in sie eindrang. Der Stier schlug mit den Hufen aus und brüllte ohrenbetäubend, während er sie besprang. Eine ganze Weile blieben die beiden so vereint, und die Leute aus dem Dorf begafften sie.“ Immerhin faszinierend genug, damit eine Ministerin sich für diese 2,42 Meter große Frauenperson interessierte. Und zwar so hartnäckig, bis sie ihren Posten los war.

Hier hat ein Schriftsteller seiner Fantasie ungehemmt freien Lauf gelassen. Und was herauskam, fasziniert heute noch so manchen Leser, auch wenn das Thema der griechischen Mythologie entlehnt ist. Wenn man von einem magischen Realismus spricht, sollte man aber immer neben der irrealen Welt auch die reale, aus der das Irrationale sich speist, sehen, sprich, die autobiografische Nuance eines Textes im Auge behalten. Mircea Eliade hat die hier literarisch verewigte Schule in der Mântuleasa-Straße von 1914 bis 1917 besucht. Und wer sich der Mythenwelt seines Haupthelden Fărâmă hingibt, wird die damit zugebrachte Zeit bestimmt nicht bereuen. Dass Mircea Eliade die Securitate eigentlich nie direkt kennengelernt hatte wie etwa Herta Müller und die Aktionsgruppe Banat, schmälert die literarische Qualität dieses Buches schon darum nicht, weil die Protagonisten des Apparats sowieso nur Statistenrollen ausfüllen. Die magischen Kräfte entfalten sich in den Gestalten der Zwischenkriegszeit, die in Zaharia Fărâmăs Geschichten reüssieren.

Anton Potche

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