In Ingolstadt wird der Tag der Deutschen Einheit seit 23 Jahren mit einem Festakt begangen, der unter dem Motto Reden zur Einheit Deutschlands steht. Die Liste der bisherigen Redner ist beeindruckend: Andrzej Szczypiorski, Lutz Rathenow, Rainer Eppelmann, Freya Klier, Claus Detjen, Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Werner E. Ablaß, Wolfgang Leonhard, Richard Schröder, Helmut Kohl, Friedrich Schorlemmer, Joachim Gauck, Thomas Brussig, Lothar de Maizière, Theo Waigel, Zoltán Balog, Klaus von Dohnanyi, Horst Teltschik, Gesine Schwan, Heinrich Bedford-Strohm, Kurt Biedenkopf und Melinda Crane. Die Politiker sind in diesem Feld zahlenmäßig die stärksten, gefolgt von Herren und Damen der schreibenden Zunft, Theologen, Publizisten und einem Historiker. Heuer war Dr. phil. Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, als Gastredner eingeladen, ein „begnadeter Kommunikator“, wie Oberbürgermeister Christian Scharpf, der einleitend einen Einblick in die geschichtlichen Vorereignisse der Deutschen Einheit gab, ihn dem Publikum im Festsaal des Stadttheaters vorstellte.
Dr. phil. Armin Nassehi Screenshot: Anton Delagiarmata |
vielmehr beobachtet, wie er selber sagt. Und bedenkt man, dass er seinen Vortrag unter dem Titel Krise als Normalität? Warum wir nie zur Ruhe kommen und warum das nicht nur ein Nachteil ist dem Auditorium ankündigt, dann kann man sich leicht vorstellen, dass man zu diesem Vortrag gut ausgeschlafen kommen sollte. Armin Nassehi gesteht den Zuhörern das Recht zu, diesen Titel als „zynisch“ zu empfinden, besonders „wenn es um den Anlass geht“. Dieser Anlass, also die Deutsche Einheit, soll aber gar nicht im Mittelpunkt seines Vortrages stehen, sondern vielmehr das Phänomen „Krise“. Er streift aber dann doch mit wenigen Sätzen den Anlass dieses Abends – der in Ingolstadt immer am Vorabend der Deutschen Einheit (2. Oktober) stattfindet - und steigt mit der Aufzählung der letzten Krisen in sein Thema ein: „die Finanzkrise [...], Pegida und Äquivalente […], die Flüchtlingskrise [...] und die Covidkrise [...]“. Keine dieser Krisen ist mit einfachen Erklärungen und schon gar nicht mit simplifizierten Mitteln zu lösen. Das haben sie, die Krisen, nämlich gemein.
Niemand weiß, wie man eine solche Krise los wird. „All diese Krisen verweisen auf das, was wir soziologisch Komplexitätsprobleme nennen.“ Man greift in solchen Zeiten gerne auf Gremien zurück oder gründet gar welche. Die Sinnhaftigkeit solchen Tuns wird von Armin Nasseh bezweifelt, obwohl er selber oft in verschiedenen Gremien sitzt. Schon darum, weil solche Expertenrunden in der Regel sehr langsam arbeiten und keine Entscheidungen treffen. In Krisenzeiten ist jedoch oft schnelles Handeln gefragt. Das Problem liegt darin, dass es ja meistens nicht nur einen Entscheidungsträger gibt. Und die haben jeder seinen eigenen Blickwinkel und seine eigenen Interessen. Beim vortragenden Soziologen heißtdas Ergebnis so: „Und dann sehen wir, dass in einem solchen Gremium alle recht haben und das geradezu eine Parabel für eine moderne Gesellschaft ist, […] von der ich sagen würde, dass sie von verteilter Intelligenz geprägt ist.“
Livestreem Foto: Anton Delagiarmata |
So arbeitet der Soziologe sich Schritt für Schritt durch ein auf den ersten Blick ermüdendes, sperriges und theorielastiges Thema. Aber er tut es so, dass der Zuhörer seinen Theorien mit steigender Aufmerksamkeit folgt. Beispiele aus dem Alltag, dem universitären, dem medizinischen, dem familiären, wirtschaftlichen usw., tragen dazu bei, dass sein Vortrag eine angenehme Kurzweiligkeit entwickelt. Der Mann spricht frei, untermalt seine Aussagen mit Schlagwörtern auf einer großen Leinwand, ist selber in ständiger Bewegung und postiert sich nicht hinter ein Rednerpult. Pllötzlich macht uns dann „Krise“ gar keine Angst mehr. Und zwar darum, „weil die Welt immer in der Krise ist, weil die Lösungskonzepte aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich aussehen und weil es Zielkonflikte gibt“. Eine Welt ohne Krisen hat etwas mit „Utopie“ zu tun. Eigentlich steuern Lösungen im Alltag immer schon „auf das nächste Problem zu“.
Und dann kommt der studierte Erziehungswissenschaftler und Philosoph auf die aktuelle Krise zu sprechen. Als Mitglied in verschiedenen Beratungsgremien zur Covid-Krise hat er Einblicke in die Gegensätzlichkeiten erlangt, die diese Pandemie erst zur weltumspannenden Krise machen. Existierende „Zielkonflikte“ schließen sich gegenseitig aus. Armin Nassehi greift auch hier in sein reiches Beispielarsenal. „Wie passen maximale medizinische Sicherheit und Marktdynamik zusammen?“ So öffnet der Wissenschaftler eine Tür zu den Berichterstattungen, Zeitungsartikeln, Essays, Kommentaren usw., denen wir täglich beim Einschalten oder Aufschlagen eines Nachrichtenmediums begegnen. Und der aufmerksame Zuhörer kann dem Referenten noch besser folgen als bisher. „In Krisen neigen wir dazu monokausal zu denken“, sagt uns der Fachmann. Das heißt, als Schuldigen eines als negativ empfundenen Problems jeweils einen Sündenbock zu finden. Etwa: „der Migrant, die da oben, Bill Gates“.
Es gibt bei aller Komplexität der Krisen-Problematik aber auch Lichtblicke. Wenn wir sie nur wahrnehmen wollen. Etwa das Lernen, Lernen aus der Krise. Was ist wichtig, um die Krise zu überleben? „Dass Europa ein Hort von Stabilität ist, ist kein Zufall. Das freie Spiel der Kräfte hat große Kosten und die totale Sicherheit produziert hohe Kosten. Da brauchen wir eher eine Gesellschaft, die lieber zugibt, dass sie eigentlich permanent in der Krise ist, nämlich dass man diese Dinge immer neu justieren muss.“
Malik Diao Trio Screenshot: Anton Delagiarmata |
Dann intoniert das Malik Diao Trio eine nach einigen Takten erkennbare Melodie und alle Anwesenden im Saal erheben sich. Mitsingen kann man die verjazzte Nationalhymne nicht. Und ich gebe zu, den musikalischen Ausklang dieses Ingolstädter Festaktes zum 30. Tag der Deutschen Einheit vor meinem PC sitzend erlebt zu haben. Livestream hat es möglich gemacht und YouTube hat mir dabei sogar gezeigt, wie viele Menschen diese Veranstaltung mit mir am Bildschirm verfolgt haben. Die Einschaltzahl schwankte zwischen 8 und 25. Immerhin ... ich war nie allein.
Anton Potche
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