Ich gestehe,
obige Zeilen in DIE LITERARISCHE WELT (19. Dez. 2020) gefunden und
hier als Motto eingesetzt zu haben, nachdem ich den folgenden Text
schon zu schreiben begonnen hatte. Was eigentlich mein Anliegen war,
passt gut als Antwort auf diesen Leitgedanken von Zelda Biller.
Das vergangene
Jahr hatte es in sich. Es war ein besonderes Jahr. Das haben wir nun
wahrlich oft genug gehört. Und vor allem, es ist ja nicht vorbei.
Das Jahr als Zeiteinheit schon, aber nicht das Ungemach, das uns in
ihm beschert wurde, und zwar von einem winzig kleinen, unsichtbaren
Mistvieh, das die Wissenschaftler SARS-CoV-2 getauft haben und das
bei uns Menschen die Krankheit COVID-19 auslöst. In Ermangelung
eines effizienten Abwehrmittels blieb unseren Politikern nichts
anderes übrig, als das öffentliche Leben in den Keller zu fahren.
Dort schmachtet es heute noch nach dem Tageslicht … und denkt sich
allerlei Auswege aus seiner misslichen Lage aus. Und siehe da, der
Mensch wurde in allen Bereichen seiner Existenz von einer neuen
Kreativwelle erfasst.
Es gibt dabei
sogar Gewinner. Unter anderem auch Erkenntnisgewinner. Die Beispiele
dafür sind unzählig, und sie werden täglich mehr. Ich greife hier
mal eins aus dem Vereinsleben auf, genauer aus der Kulturtätigkeit
der Landsmannschaft der Banater Schwaben. Ein Kreisverband dieses
Vereins, nämlich der aus Baden-Württemberg, organisiert seit
nunmehr 56 (sechsundfünfzig) Jahren Kulturtage. Dabei ging es immer
um die weitere und nähere Vergangenheit dieser Volksgruppe aus dem
Banat und deren Auswirkungen auf die Gegenwart, was ja aus
kulturellen Gesichtspunkten durchaus auch möglich ist. Das grobe
Gerüst dieser Veranstaltungen blieb über Jahre das gleiche:
Vorträge von Referenten, Diskussionen und ein musikalischer Teil.
Also etwas zum Zuhören, Lernen und Gespräche führen, aber auch
Zusammenkunft mit Gleichgesinnten - bei Volksgruppen ganz
wichtig.
Im
vorigen
Jahr
war dem nicht so. Aber „Vorträge von Referenten, Diskussionen und
ein musikalischer Teil“ hieß noch lange nicht: keine Vorträge
von Referenten, keine
Diskussionen
und kein musikalischer Teil. Alles war wie gehabt, Zuhören,
Lernen und Gespräche führen, aber auch Zusammenkunft mit
Gleichgesinnten war
möglich, nur eben virtuell, also über PC und andere
Kommunikationsgeräte. Und
bei etwas gutem Willen kann man sogar Vorteile in dieser Art von
Kulturtagen finden, sind sie doch manchmal noch Monate später (oder sogar Jahre) abrufbar.
Der
hier erwähnte Landsmannschaftsverband
hat
die Beiträge der Organisatoren, Referenten und Musiker in Wort &
Ton auf seiner Homepage veröffentlicht. Dazu gibt es noch ein Angebot auf
YouTube von Brunhilde Forro, die eigentlich für
diese Video-Serie
verantwortlich
zeichnet.
Das
erste Video zeigt uns Richard
S. Jäger,
Vorsitzender des Landesverbandes Baden-Württemberg
der
Landsmannschaft der Banater Schwaben. Der Inhaber dieser Funktion mit
dem sperrigen Namen führt in einer etwas zu lange geratenen
Begrüßung in die Veranstaltung ein.
Halrun
Reinholz
ist
es vorbehalten, als
Moderatorin die
Thematik zu
erläutern.
Es soll in den folgenden Referaten um das Thema der Auswanderung der
Deutschen aus dem Banat gehen. „Uf Deitschland gehn“, hieß das
bei den Banater Schwaben. Der Ausdruck war wortwörtlich „in aller
Munde“. Die
Moderatorin stellt die Themenschwerpunkte der einzelnen
Referate kurz vor, bevor es im dritten Video ans Eingemachte geht.
Der
in Hatzfeld geborene, pensionierte Lehrer Hans
Vastag
stellt sein Impulsreferat unter das Motto Grenze
und Über
die Grenze.
„In einem Impulsreferat legt der Referent in höchstens zwanzig
Minuten kurz und prägnant die Kerndaten und absolut wichtigsten
Fakten zu einem bestimmten Themenkomplex, einer Sachlage dar und
stellt die sich daraus ergebenden Thesen
vor,
um relativ schnell zu einer fruchtbaren, möglichst kontroversen
Diskussion
zu gelangen“, habe
ich bei Wikipedia gelesen. An diese Definition hat der Referent sich
zumindest zeitnah gehalten – 24,43 Minuten. Zum Diskutieren gab es
keine Gelegenheit und die doch sehr theorielastige
„biographisch-essayistische Annäherung“ (Vastag)
ist eigentlich so präzise verfasst, dass es auch jetzt im Nachhinein
gar nicht so einfach ist, kontrovers zu diesem Thema zu diskutieren.
Grenzen
sind nun mal abscheuliche Gebilde.
Ernst
Meinhardts
Beitrag ist mit dem Titel überschrieben Schmiergeld
für die Ausreise – Für viele noch immer ein Tabuthema.
Der Journalist befasst sich seit Jahren mit diesem Thema und
begründet sein Engagement zur Aufklärung eines dunklen Kapitels in
der neueren Geschichte der Banater Schwaben gleich zu Beginn seines
Referats, gab es doch
durch
diese illegalen Schmiergeldzahlungen Streitereien bis in dahin
intakte Familien- und Verwandtschaftsstrukturen. Originalton
Meinhardt:
„Solange
unsere Landsleute hartnäckig schweigen, solange werden wir noch
nicht einmal ein ungefähres Bild vom Ausmaß der
Schmiergeldzahlungen bekommen.“ Was er uns erzählt in seinem
Referat (nur Ton untermalt mit Bildern), kommt
einer Analyse des Verschweigens in diesem speziellen Fall, nämlich
der
Auswanderung der Banater Schwaben, gleich. Und das sind nach seiner
Recherche die „Gründe für das Schweigen“: Dankbarkeit,
schlechtes Gewissen, Angst vor dem langen Arm der Securitate und
Angst vor Strafverfolgung. Es lohnt sich reinzuschauen, um zu hören,
wie der Referent diese Gründe im Detail erläutert. Aber bitte nicht
vor dem Selbsterkennen zurückschrecken. So waren und sind wir
Banater Schwaben nun mal – also nicht besser oder schlechter als
andere auch.
Der
Historiker für neuere und neueste sowie osteuropäische Geschichte
Georg
Herbstritt
hat unter anderem auch die zusammen mit Stejărel
Olaru
verfassten
Bücher
Stasi
și
securitatea,
Bukarest 2005 und
Vademekum
Contemporary History Romania. A Guide through Archives, Research
Institutions, Libraries, Societies, Museums and Memorial Places.
Berlin, Bukarest 2004 veröffentlicht.
Bei der virtuellen Kulturtagung der Banater Schwaben (28.
November 2020) hat
er das Referat Ein
Tor in den Westen? Wie DDR-Bürger versuchten, über Rumänien in die
Bundesrepublik zu gelangen gehalten.
Er sagt gleich zu Beginn seiner Ausführung, dass es sich um das in
Historikerkreisen bekannte Phänomen der „verlängerten Mauer“
handelt. Sein kurzer Beitrag, 11.01 Minuten, ist eigentlich der beste
Beweis dafür, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten des Kalten
Krieges keine absolute Abschottung gab – besonders nicht für
mutige, freiheitsliebende Menschen.
Der
aus Jahrmarkt stammende und in Augsburg lebende Journalist und
Banater Heimatkundler Luzian
Geier
hat seinem Referat den Titel Die
Entwurzelung, die Familienzusammenführung und der Druck „von
unten“ gegeben.
Er findet, „dass viele Aspekte, nicht nur Unwesentliches, nicht
aufgezeichnet sind und auch nicht in den Archivakten stehen, manches,
gerade subjektive oder emotionale Aspekte sind nicht gut fassbar bei
der Gewichtung des Ursachenbündels für
die Auswanderungen aus Nachkriegsrumänien.“ Das ist schon mal ein
vielversprechender Einstieg für neugierige Zuhörer. Es könnte ja
in diesem Themenkomplex doch noch etwas geben, das man nicht kennt.
Das
müssen gar nicht die Statistiken sein, die Geier
vorlegt, sondern vielmehr die geschichtlichen Zusammenhänge, die
letztendlich zur „Familienzusammenführung“ hinführten. Ich
weiß natürlich nicht, mit welcher Intention der Referent hier ans
Werk gegangen ist. Auf jeden
Fall ist es ihm gelungen, überzeugend darzustellen, dass nicht
allein materielle Gründe die Auswanderung der Deutschen aus Rumänien
bewirkt haben, sondern
dem Phänomen ein gewichtiger soziokultureller Aspekt zugrunde liegt.
Geschichtliche
Ereignisse finden oft früher oder später den Weg in die Literatur.
So auch das Verschwinden der deutschen Minderheit aus Rumänien. Dass
dieses Ereignis die größtmögliche literarische Würdigung durch
den Nobelpreis für Herta
Müller
erfahren hat, ist nur ein Aspekt dieser Literaturwerdung. Wer sich in
der Szene ein wenig umschaut, wird unschwer erkennen, dass es
mittlerweile unzählige literarische
Arbeiten, viele abseits der ausgetretenen Verlagspfade, zu diesem
Thema gibt. Natürlich hat man das längst auch bei den Initiatoren
der banatschwäbischen Kulturtage aus dem Ländle erkannt und
demzufolge einen Buchautor zu einer Lesung eingeladen. Herbert-Werner
Mühlroth
liest
aus
seinem Buch Eine
Eisenbahn in meinem Traum. Meine Flucht aus dem kommunistischen
Rumänien.
(Video
Nr. 7). Natürlich
ein autobiographischer Text; wie könnte es auch anders sein bei
einem aus Hatzfeld / Jimbolia stammenden Germanisten, Romanisten und
Philosophen mit literarischer Neigung und gesunder Fantasie. Wir sind
doch schon ewig alle weg. Aber eine Portion Spannung und Gänsehaut
schadet
nie.
Und
das Sahnehäubchen kommt zum Schluss wie bei jeder gelungenen Torte: Das traditionelle Samstagskonzert der Kulturtagung
- Wilfried
Michl
(Bariton), Eva
Maria Wagner
(Violine) und Franz
Metz
(Klavier & Orgel) präsentieren Werke der Klassik und von Banater
Komponisten. Das
einstündige Konzert ist ja noch nicht beendet, es
beginnt bei jedem Klick von vorne.
Wer musikalische Darbietungen
(dazu gehört auch Information) in Reinkultur erleben will, sollte
sich auch dieses letzte Video der
56. Landes-Kulturtagung der Banater Schwaben aus dem Ländle
anschauen.