Er stand im Parkhaus des Supermarktes an der Münchener Straße. Er war groß, breitschultrig, hatte einen milden Gesichtsausdruck und einen Pack Zeitungen auf dem linken Arm hängen. So stand er vor den angeketteten Einkaufswagen und hielt mir ein Zeitungsexemplar hin: Straßenlicht – Obdachlosenzeitung – Überregionale Ausgabe für deutschsprachige Länder I-2021.
Er, der Zeitungsverkäufer, war weder alkoholisiert, noch hatte er sonstige Drogen oder bewusstseinsverändernde Substanzen konsumiert. Er hat mich nicht angebettelt, ja nicht einmal angesprochen, keine Spende verlangt und nicht versucht Mitleid zu erwecken. Er war anständig und höflich. Er wollte mir von den zwei Euro, die ich ihm für die Zeitung gab, 50 Cent zurückgeben – was ich natürlich ablehnte. Wahrscheinlich habe ich ihn damit zu einem Regelverstoß verleitet, denn sein gesamtes Benehmen entsprach sieben „Regeln für den Verkauf der Straßenzeitung Straßenlicht“.
Diese Regeln stehen auf der zweiten Seite der Zeitung zusammen mit anderen „Allgemeine[n] Hinweise[n] zum Verkauf“. Die dritte Seite ist mit Zitaten vom Psychoanalytiker, Philosophen und Sozialpsychologen Erich Fromm (1900 – 1980) gefüllt. Das erste Zitat lautet: „Die Industriegesellschaft erzeugt viele nutzlose Dinge und im gleichen Ausmaß viele nutzlose Menschen.“ Könnte dieser Zeitungsverkäufer nicht vielleicht etwas Sinnvolleres, etwas, das mehr zum Nutzen der Menschheit beiträgt, machen?
Ich weiß es nicht. Jedenfalls scheint diese Beschäftigung ihn über Wasser zu halten. Als ich meinen Einkaufswagen wieder ankettete, hatte er einen neuen Stapel Zeitungen auf dem Arm. Die Leute nahmen ihm seine Ware ab. Ob sie in dem Straßenlicht – 14 Seiten Großdruck ohne Fotos - lasen, ist schwer zu beurteilen. Ich habe die Zeitung durchgeblättert und mit Zeilensprüngen das eine und andere gelesen - bis zur letzten Seite mit dem zum Zeitungstitel stark kontrastierenden Gedicht Reisebericht von Christoph Wetteroth.
Und das ist die fünfte der sieben Strophen: „Mit dem Fahrrad durch die gefangene Geisterstadt / Vorbei an Masken und denen die freie Mimik bespucken / Bis unter eine Brücke an der man einen schlafenden Menschen gefunden hat / Er ist schon ganz unten, er kann sich nicht mehr ducken.“ Ich hoffe, mein Zeitungsverkäufer hat sein Straßenlicht unter die Leute gebracht, irgendwann das zügige Parkhaus verlassen und sich auf die Rolltreppe gestellt, die ihn hinauf in die warme und lichtdurchflutete Halle gebracht hat. Immerhin, ein Kaufhaus ist noch keine Brücke. Hoffentlich auch nicht für diesen Zeitungsverkäufer und viele andere seinesgleichen.
Anton Potche
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