Eine Anthologie, ein Lesebuch … nein: ein Tagungsbuch. Genau das liegt vor mir. Ausgelesen. Um was es sich eigentlich handelt, erläutert Prof. Dr. Wolfgang Schlott, Präsident des Exil-P.E.N. (Stand 2013), in einem Vorwort: „Die vom 16. - 18. November 2012 in die Tagungsstätte „Heiligenhof“ (Bad Kissingen) eingeladenen Literaten und Literaturwissenschaftler sollten […] unter dem Thema Heimat – gerettete Zunge. Die rumäniendeutsche Literatur in der Bundesrepublik Deutschland […] aus ihren Texten lesen und sich anschließend den Fragen der Moderatoren und des Publikums stellen.“ Das haben sie dann auch getan und dank eines finanzpotenten Unterstützers, der Bundesbeauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, konnten die gehaltenen Referate und Lesungen einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht werden. Als zweiter Förderer dieses Buchprojekts zeichnet der Internationale Exil-P.E.N.-Sektion deutschsprachige Länder. Und das bekommen interessierte Leser geboten (nicht in der Vortragsreihenfolge).
Erst einmal zwei Prosatexte von Hans Bergel (*1925), dem Nestor der rumäniendeutschen Literatur: Der Barackentrottel und Der Major und die Mitternachtsglocke. Wer Hans Bergels Biografie und Werk kennt, wird sich nicht über die Gefängnisthematik dieser Texte wundern: Sie sind Teil von Bergels Journalliteratur und klingen teilweise gelassen, sogar humorvoll, dann stark kontrastierend apokalyptisch und nicht zuletzt auch deutlich anklagend: „Über jenen Prozess der deutschen Schriftstellergruppe – procesul lotului scriitorilor germani – ist während der Jahrzehnte seither von geradezu unfassbar oberflächlich recherchierenden bundesdeutschen Journalisten und nicht minder ahnungslosen wie geschwätzigen Landsleuten so viel Unsinn gesagt, geschrieben und gemauschelt worden, dass jeder Gedanke an Richtigstellungen reizlos erscheint.“Es folgt ein Auszug aus Johann Lippets (*1951) Roman Bruchstücke aus erster und zweiter Hand (POP Verlag, 2012). Wir sind in dem Heidedorf Wiseschdia. Die Stute heißt Doina, die Kuh reagiert auf den Zuruf Rosa, der Bauer ist Alois und die Bäuerin Florica, ein Mähdrescher ist eine Kombine und die ehemalige Landwirtschaftliche Genossenschaft ist als Ferma in Erinnerung geblieben. Die Zeit der Deutschen in Wiseschdia ist endgültig vorbei. Aber die Erinnerung an sie, gepaart mit den wenigen Überbleibseln hat einen Hauch von Romantik. Nichts Außergewöhnliches bei Lippet.
Bei Gerhard Ortinau (*1953) heißt es dann, die sieben Zwetschgen zusammennehmen. Der Text ist mit Wehner auf Öland – Eine Verkleinerung überschrieben. Seine Form ist eine Kombination aus Prosa und Theater. Sein Thema das Abhandenkommen der Kontinuität im Denken und das verlieren von Gestalten aus dem unmittelbaren Umfeld. Wahnsinn, Grauen, das Zerfallen dessen, was man einmal war oder was davon noch übriggeblieben ist, in seine Teile. Der Protagonist dieser Höllenfahrt ist kein geringerer als Herbert Wehner (1906 - 1990), einer der markantesten deutschen Politiker nach dem 2. Weltkrieg. Endlich ein nichtrumäniendeutsches Thema. Das Ganze liest und fühlt sich so an: „Kassandra, nein Greta. Ich will, dass die Greta kommt und das Süße zum Nachtisch und meine Pfeife bringt. Jetzt laut. Seit vierzig Jahren habe ich keinen Verrat begangen an meiner Tabakmarke REVELATION. Nur im Bett, im Bundestag und im Zuchthaus habe ich nicht geraucht.“
Helmut Seiler (*1953) ist mit einem stark selbstbezogenen und sehr kurzen Text vertreten. Mein Bleistift hat nach seinem letzten Punkt fortgeschrieben: Man kann oft mit seinen eigenen Träumen wenig anfangen, geschweige denn mit denen Anderer.
Balthasar Waitz (*1950) hat drei Prosastücke aus seinem Band Krähensommer und andere Geschichten aus dem Hinterland (Cosmopolitan Art Verlag, Temeswar, 2011) für diese Blumenlese bereitgestellt. Mit Unsere schwäbische Blasmusik ist die eine Erzählung betitelt. Als Jahrmarkter muss ich mich bei dieser Geschichte fragen, was besser ist: Musikantenstreit oder Musikantensucht.
Der Lyrikteil beginnt mit Gedichten von Ilse Hehn (*1943). Auch bei dieser Poetin gilt, dass Menschen, andere Menschen, mit Gedichten oft wenig anfangen können. Der/die Dichter/in hat sie manchmal zu sehr nur für sich geschrieben.
Und trotzdem fällt es nicht immer schwer, ein Sonett zu lieben, schon wegen seinem Rhythmus und Reim. Als Beispiel könnte man Junger Mond über Saalbach von Franz Heinz (*1929) anführen – auch wenn oder gerade weil die klassischen Sonettformen außer Kraft gesetzt sind. Statt Quartette und Terzette serviert Franz Heinz uns drei Fünfzeiler.
Klaus Hensel (*1954) beweist durch seinen Stil, dass ein kluges Mäandern zwischen Vers und Prosasatz durchaus seinen Reiz haben kann. Und „Wolfgangs Küche“ kann überall sein, ist wahrscheinlich sogar überall.
Franz Hodjak (*1944) widmet seine Gedichte (zumindest einige der hier abgedruckten) Anderen. Das erleichtert es wiederum ganz Anderen, den Inhalt oder die Botschaft dieser Lyrikprodukte besser zu verstehen.
Mit Hyperlinks, einem epischen Gedicht, wird Johann Lippet auch als Dichter vorgestellt. Und man kann lesen: „Hund und Katzen waren vergiftet, ihnen Gräber errichtet / am Gartenzaun, sie sollten nicht dienen fremden Herren.“ Wahnsinn! Wenn Auswanderungsagonie den Verstand verdunkelt.
Es ist immer schwierig, sich in Allgemeinformulierungen über das Werk eines Dichters oder nur (auch sehr) kleine Teile davon zu äußern. Daher tut man gut daran, sich ein Gedicht vorzunehmen. Etwa Usedom im Regen von Horst Samson (*1954), eins von 13 Gedichten dieses Lyrikers in dieser Blumenlese. So etwas generiert doch Gänsehautgefühle: „Nachts gehen wir durchs Meer, / Die Wellen / Am Schienbein, Hand in Hand / Unsere weißen Körper / Leuchten im Mondlicht wie / Taufkerzen.“ Wenn ein Gedicht in deinem Kopf den Mond aufgehen lässt, hat es seinen heiligen Zweck erfüllt. Usedom wird hinter meiner Stirn Costinești ... und noch viel, viel mehr.
Einer der rumäniendeutschen Schriftsteller mit größerer Rezeption im deutschen (literarischen) Sprachraum ist Dieter Schlesak (1934 – 2019). Es ist einfach nur logisch, dass er aus dieser Anthologie, die noch zu seiner Lebenszeit erschienen ist, nicht fehlen darf. Bis auf den gedichteten Nachruf auf Rolf Bossert (1952 - 1986) lernen wir hier eine stark introvertierte Lyrik kennen. Schwere, sehr schwere Kost. Aber die Portion ist genießbar und durchaus nach der gängigen Rezeptur deutscher zeitgenössischer Lyrik zubereitet. Auch das ist nur eines der vielen Beispiele aus dieser Anthologie, die belegen, dass die rumäniendeutsche Literatur (zumindest die ausgewanderte) eine lebensfroh sprudelnde Quelle in der gesamtdeutschen Literaturlandschaft ist.
Helmut Seiler schließt die Dichterreihe. Mit dem Gedicht Neulich, beim Briefschreiben zeigt der Autor, dass (und wie) die Poesie in der Blogosphäre angekommen ist. Und dann hat er noch Für Évi das Gedicht Schiffchen geschrieben. Ein so schönes Liebesgedicht würde ich meiner Evi auch gerne schreiben können. Leider muss man dazu Dichter sein.
Als einsamer Dramaturg muss sich Frieder Schuller (*1942) zwischen so vielen Dichtern, Essayisten und Prosatoren fühlen. Ossis Stein oder Der werfe das erste Buch nennt er sein Theaterstück. Poesie & Theater ist eigentlich eine glückliche Fügung, nicht nur bei den Klassikern. Auch Frieder Schuller versteht etwas davon. Und wer aus jener siebenbürgischen Nachkriegszeit kommt, kann vielleicht sogar erraten, wer in diesem Stück für den Autor Modell stand.
Die Essayisten haben in diesem Buch das letzte Wort. Als Erster beschäftigt sich Ingmar Brantsch (1940 – 2013) mit Chancen und Schwierigkeiten beim Versuch, die deutschsprachige Literatur in und aus Rumänien im interkulturellen Dialog mit Norwegen, Deutschland, Rumänien und Österreich zu erfassen. Dabei hat er den Sammelband Ost-West-Identitäten und Perspektiven, Deutschsprachige Literatur in und aus Rumänien im interkulturellen Dialog (Verlag IKGS, München, 2012) rezensiert. Das Buch ist das Resultat eines Symposiums in der sudetendeutschen Begegnungsstätte „Der Heiligenhof / Akademie Mitteleuropa“ in Bad Kissingen, also ein ähnliches Produkt wie Heimat – gerettete Zunge. Brantsch macht auch in diesem Material aus seiner Abneigung gegen die Aktionsgruppe Banat kein Hehl, wenn er schreibt: „Ein Jahr später, 1972, trat die vulgär-marxistische Aktionsgruppe Banat ins ideologische Rampenlicht der verblüfften Öffentlichkeit mit dem vulgär-marxistischen Terribilismus, Ceaușescu sogar noch links überholen zu wollen, indem von nun an jede literarische Äußerung auch wieder marxistisch sein sollte.“
Walter Engel (*1942) hat seinen Beitrag streng wissenschaftlich gegliedert in Vorbemerkung, Biographisches zu den Autoren, Erzählperspektiven, Orte und Gestalten des Geschehens und Von der Sprachvielfalt. Es ist ihm so gelungen – auch mit langen Textausschnitten -, die Innenwelt und Außenwelt des Banats im Spiegel neuerer Texte von Balthasar Waitz und Esther Kinsky darzustellen. Entstanden sind essayistische Stimmungsbilder, die auf die Werke zweier Autoren mit grundverschiedenen Beziehungen zum Banat neugierig machen. Balthasar Waitz (*1950) ist nach der Auswanderung der Banater Schwaben im Banat geblieben, während die Schriftstellerin Esther Kinsky (*1956) eine geborene Rheinländerin ist. Sie hat den Roman Banatsko (Verlag Matthes & Seitz, Berlin, 2011) geschrieben.
Eines im wahrsten Sinne des Wortes großen Buches (24,6 x 18 cm, 549 Seiten, 1,5 kg, mit vielen Fotos) hat sich Franz Heinz angenommen: Die deutsche Seele von Thea Dorn (*1970) und Richard Wagner (*1952). Das 2011 im Knaus Verlag erschienene Buch wurde im deutschen Feuilleton positiv besprochen. Der Text von Franz Heinz ist als Rezension für eine Kulturseite zu umfangreich. Als Vortrag und entsprechende Veröffentlichung in Buchformat hingegen ist er schon darum geeignet, weil er der eigenen Gefühlslage bei und nach der Lektüre ausreichend Platz einräumen kann. Ein Dichter-Schriftsteller-Essayist-Journalist wie Franz Heinz versteht sich nun mal auf das Schreiben von Rezensionsessays.
Peter Motzan (*1946) ist der Kenner der rumäniendeutschen Literatur schlechthin. Er stellt im Titel seines Essays die Frage: Eine Erfolgs- und/oder eine Endzeitgeschichte? - Zur Präsenz (ex-)rumäniendeutscher Autoren im Literaturbetrieb der Bundesrepublik Deutschland. Also ich fand sein Fazit schon ernüchternd: „Inzwischen ist der ‚Exotenbonus‘ längst verblasst, Schriftsteller, denen die Chance des Einstiegs großzügig geboten wurde, sind in Brotberufe abgewandert oder in die Anonymität zurückgefallen. Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Herta Müller im Jahre 2009 hat einen erneuten Boom ex-rumäniendeutscher Autoren nicht hervorgerufen – sieht man von der kurzzeitigen und medienwirksamen inszenierten Hinwendung zu der 1972 in Temeswar gegründeten Aktionsgruppe Banat ab, einer Solidargemeinschaft von oppositionellen jungen Autoren, die 1975 von der Securitate zerschlagen wurde.“
Wie entsteht ein Gedicht? Auf vielfältige Art und Weise. Horst Samson (*1954) beschreibt in einem ergreifenden Essay, wie er das seinem Vater gewidmete Gedicht Pünktlicher Lebenslauf verfasst hat. Worin liegt eigentlich die Kunst des Dichtens? Im Unerklärlichen. Wahrscheinlich. Das bei Samson so klingt: „Es hört nicht auf, nicht das Gedicht und nicht die Geschichte. Seit Wochen trage ich beides in meinem Kopf herum. Darüber soll ich schreiben, will ich schreiben, werde ich schreiben. Aber erklären kann ich nichts, nicht das Gedicht, nicht die Geschichte, schon gar nicht wie das eine , wie das andere entstanden ist.“
Und wieder ein Fragetitel: Wer liest heutzutage „rumäniendeutsche“ Literatur? Zum potentiellen „Kundenkreis“ zählt die Autorin, Olivia Spiridon (*1971), als Erstes die „rumäniendeutschen Leser […], die allerdings eine schwer einschätzbare Gruppe darstellen. [...] Die Antwort auf die Frage nach den Lesern rumäniendeutscher Schriftsteller bleibt daher nach wie vor spannend.“ Meine Erfahrung als Ergänzung dieser Feststellung: Personen der rumäniendeutschen Erlebnisgeneration aus meinem Umfeld lesen nur die Todesanzeigen in der BANATER POST … und ihre Kinder lesen Übersetzungen aus der amerikanischen Literatur … wenn möglich schon mit einem halben Dutzend Toten auf den ersten zehn Seiten.
Als letzter Textbeitrag dieser Anthologie sind noch zwei knappe Vitas abgedruckt. Renate Windisch betitelt ihren Text mit Zwei Generationen, ein Tisch – Literatur jenseits der Vaterländer. Gemeint sind damit Siebenbürgen und das Banat … und die ihnen entstammenden Hans Bergel und Horst Samson.
Es folgt das Programm der Tagung, die diesem Buch zugrunde liegt und ein reicher Fototeil. Mit den biobibliographischen Angaben zu den Autoren (ohne Angaben zu Peter Motzan) und dem Inhaltsverzeichnis ist das Buch abgeschlossen. Für den einen oder anderen Bücherschrank könnte es eine Bereicherung sein. Auf jeden fall hat der POP-Verlag hier eine gute Arbeit geleistet.
Anton Potche
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