Montag, 11. Oktober 2021

Wenn alte Männer sich erinnern

Manfred Winkler & Hans Bergel: Wir setzen das Gespräch fort …; Herausgegeben und mit einem Nachwort von Renate Windisch-Middendorf; Verlag Frank & Timme GmbH, Berlin, 2012; ISBN 978-3-86596-381-9; Hardcover, 353 Seiten; EUR 28,00.

Der Untertitel dieses Buches lautet: Briefwechsel eines Juden aus der Bukowina mit einem Deutschen aus Siebenbürgen. Bemerkenswert an diesem Austausch von Briefen ist nicht die Tatsache, dass ein Jude mit einem Deutschen zu
Rande kommt – schließlich liegt der Holocaust weit genug zurück -, sondern die Art der Kontaktaufnahme und der Korrespondenz. Wer schreibt im Zeitalter des Internets noch so lange Briefe, wo doch sogar Weihnachtskarten längst aus der Mode sind?

Es müssen zwei Menschen sein, die gerne schreiben und aus einer Zeit kommen, als noch der Postbote der einzige Nachrichtenüberbringer war. Also Schriftsteller, deren Lebensanfänge weit ins 20. Jahrhundert zurückreichen. Wahrlich, es handelt sich um den jüdischen Poeten Manfred Winkler und den siebenbürgischen Schriftsteller Hans Bergel. Winkler ist Jahrgang 1922
(2014) und Bergel Baujahr 1925. Zum Sonderbaren ihrer Korrespondenzaufnahme gehört das Datum: 1994. Da war der in Israel lebende Manfred Winkler 72 Jahre alt und sein neuer Brieffreund aus Deutschland immerhin auch schon 69. Und das, obwohl die zwei Männer sich in ihren besten Jahren schon mal im Jahre 1956 bei einem Schriftstellertreffen in Bukarest über den Weg gelaufen waren. Mehr als eine flüchtige Begegnung konnte das damals gar nicht gewesen sein, wo die beiden sich vorher doch gar nicht kannten.

Und jetzt? Wieso wundere ich mich ob dieser Merkwürdigkeit, wo ich doch im letzten Jahr gleich drei Anrufe von ehemaligen Schulkollegen aus Rumänien bekam, mit denen ich mein letztes Schuljahr 1972/73 – inklusive einer unvergesslichen, mehrtägigen Schulabschlussfahrt durch Siebenbürgen - verbracht habe? Immerhin ist das auch schon 48 Jahre her. Wohl dem, der sich seinen Erinnerungen, gleichwohl wie weit sie zurückführen, schamlos und freudig hingeben kann.

In diesem Buch ist ein solcher freudiger wie auch schmerzlicher Erinnerungsparcours zweier Literaten des 20. und Beginns des 21. Jahrhunderts festgehalten. In Briefen. Wieviel an Form und Inhalt mit den originellen Schriften nach ihrer Buchwerdung noch identisch ist, weiß man als Leser nie - wie auch bei anderen Publikationen dieses Genres. Was man aber mitbekommt, ist ein überaus großer Schatz an Gefühlen und Informationen aus den Biografien der Protagonisten sowie aus den Literaturbetrieben, in denen sie bis heute ihre literarischen Bedürfnisse ausleben.

Da wäre einmal die legendäre Literaturvielfalt deutsch schreibender jüdischer Autoren aus der Bukowina. Manfred Winkler fühlt sich dieser Literaturlandschaft zugehörig, eine Szene, die ihre Ableger in der ganzen Welt hat. In einem Brief von 1994 heißt es dazu: „Sooft ich aus Temeswar nach Bukarest kam, besuchte ich Sperber.“ Im gleichen Brief will Winkler von Bergel wissen: „Hast Du Kontakt mit Dieter Schlesak? Im Buch Geschäfte mit Odysseus schreibt er über seinen Aufenthalt in Israel. Er war mein Gast, damals der neuen Linken zugehörig, erinnere ich mich. Sein Buch enthält Aspekte, die nicht stimmen, die aber bei Euch scheinbar gerne so gelesen werden.“ Also, es geht auch ans Persönliche. Klar, wir sind in der Welt der schreibenden Zunft. Da funktionieren Abschottungen schlecht. Die Krake Literatur streckt ihre Fühler in alle Himmelsrichtungen aus.

Und dabei wird auch die Kunst der Analyse bemüht. Mit interessanten Einschätzungen des jüdischen Dichters: „Aufschlussreich erscheint mir, dass die Bukarester Bukowiner-Gruppe ebenfalls geteilt werden kann: Sperber, Kittner, Weissglas, Rosenkranz als die Traditionellen, Celan, Ausländer, Gong als die Modernen.“ Und im gleichen Brief (24. September 1994): „Dank dafür, wie Du Dich für Sperber einsetzt – den Riesen mit dem kindlichen Lächeln und feinen Humor. Er wurde schon während der Fünfzigerjahre aus Temeswar angegriffen, z. B. von Franz Liebhard. Ich könnte viel über die Hintergründe sagen.“

An Hintergrundwissen reich ist natürlich auch Bergels Biografie, besonders seine rumänischen Jahre, bestückt mit Prozessen und Einkerkerungen. Ein streitbares Wesen steckt in dieser physisch beeindruckenden und geistig mit vielen Talenten beschenkten Gestalt: Sprache, Musik, bildende Kunst. Interessant ist, dass Briefe mit diesem profunden (Hintergrund)Wissen fast nicht vorkommen, obwohl es sie gibt. Das klingt in Winklers Antworten an. Hat Bergel sich durch das Nichtveröffentlichen dieser Briefe vor der deutschen Justiz schützen wollen? Schließlich ist die vorliegende Briefsammlung erst 2012 erschienen, da war bereits deutsches Recht über einige rumäniendeutsche Spitzelgeschichten gesprochen. Keine besonders rühmliche deutsche Justizgeschichte ... wenn ich mich gut erinnere, würde Sam Hawkens sagen.

Umso schöner heißt es dann in einem Brief Bergels über den „Erlkönig“ (September 1998): „Überhaupt machte mir erst Schuberts Musik die ganze gespenstische Dramatik der acht Strophen des Goethe-Gedichtes bis ins Letzte spürbar. Keine Arie des Belcanto reicht an sie heran. Du kannst sie Dir von Donizettis Lucia die Lammermoor über Verdis La Traviata bis hin zu Puccinis La Bohéme alle anhören und wirst mich bestätigen. Ich weiß, wovon ich spreche: Vier Jahre saß ich im Orchestergraben und spielte sie als Cellist alle (ohne auch nur eine missen zu wollen!)“. Und irgendwie empfand ich es dann sogar als ein erhebendes Gefühl, als ich in einem in München von dem Siebenbürger Sachsen verfassten Brief vom 18. November 2000 las: „Mir war aus den Jahren vor der Verhaftung als eine der stärksten Lektüren Der stille Don Scholochows - mit den ebenso unvergesslichen wie unvergleichlichen Grigorij Melechov und Aksinja – in Erinnerung.“ (Dieser Satz trieb mich an mein Bücherregal. Mein Der stille Don ist jüngeren Datums: Verlag Volk und Welt, Berlin, 1966; 13. Auflage, 1984, vier Bände zu 426, 414, 456 und 521 Seiten; Vol. I – IV Lei 160. Es war mein letzter Bücherkauf in einer rumänischen Buchhandlung. Und Grigorij und Aksinja? Ja, sie leben auch Tausend Kilometer westwärts weiter.)

Es wird viel über Literatur im Allgemeinen und über Lyrik (Winkler) und Prosa (Bergel) im Besonderen in den Briefen geschrieben. Auch übers Übersetzen kann man die eine oder andere Anmerkung finden. Und immer wieder stößt man auf den roten Faden bei beiden: die schon so weit zurückliegende Vergangenheit.

Und dann sind da noch diese verbitterten Zeilen des ohne den erhofften Weltruhm gealterten Schriftstellers Hans Bergel. Auch Enttäuschungen können vor Selbstbewusstsein – oder sollte es sogar Selbstüberschätzung sein? - strotzen: „Zum Ruhme der bundesdeutschen Literaturrezeption sei noch vermeldet, dass sie keinerlei Notiz nahm von der Wiederkehr der Wölfe – mit Sicherheit der wichtigste Roman des Jahres in diesem Land.“ (15. Dezember 2006). Gemeint ist mit dem Land Deutschland … und mit dem Roman sein eigener. (Ironie? Sarkasmus?)

Erwähnenswert der Brief Bergels vom 1. Dezember 2010. Ein Offenbarungseid. Warum hat Hans Bergel den angedachten Aufsatz mit dem Titel Warum ich aus meinen Securitate-Akten kein Buch mache nie geschrieben? Dieser Brief gibt Aufschluss und man möchte ihn am liebsten ganz abschreiben. Um sich ein Bild machen zu können, will ich zwei Sätze zitieren: „Dass eine Person als IM (Informeller Mitarbeiter) in den Akten auftaucht, besagt unter dem Aspekt moralischer Abwägung noch nichts, erst was sie der Securitate an Information lieferte, fällt ins Gewicht.“ Nicht alles, was in Securitateakten vermerkt ist, entspricht der Wahrheit. Daher liegt für Einsichtnehmer in der „Papiergläubigkeit eine weitere Fußangel für jeden, der sich auf diese Materie einlässt; es ist für Außenseiter gefährlich, das Terrain zu betreten.“

In der Tat handelt es sich hier um eine Materie, die nicht wenige Kontroversen hervorgerufen hat und letztendlich auch dazu führte, dass dieser Briefwechsel in Buchform nicht nur Zustimmung bei verschiedenen Personen gefunden hat. Ich habe diese Briefe als Bereicherung empfunden. Es kann ja manchmal auch gut sein, wenn man Fakten nicht auf jedes Detail überprüfen kann.

Anton Potche

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