Rudyard Kipling: Fischerjungs – Roman; Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, 1976, ISBN 3-423-01201-3; 154 Seiten; DM 4,80 (noch erhältlich bei verschiedenen Online-Anbietern)
Als mein Großvater väterlicherseits geboren wurde, hatte der Engländer Rudyard Kipling schon einen Lebensweg von 42 Jahren zurückgelegt. Man schrieb das Jahr 1907 und Rudyard Kipling bekam den Nobelpreis für Literatur. Er war der achte Träger dieses Preises (1904 gab es zwei Preisträger). Die Jury begründete ihre Entscheidung für Kipling mit dessen „Beobachtungsgabe, der ursprünglichen Einbildungskraft sowie der männlichen Stärke in Auffassung und Schilderungskunst.“ Trotz männlicher Dominanz im damaligen Literaturbetrieb sollte aber doch schon zwei Jahre später Selma Lagerlöf (1858 – 1940) als erste Frau den begehrtesten aller Literaturpreise bekommen.
Der in Bombay (Indien) geborene Joseph Rdyard Kipling ist besonders durch sein in zwei Bänden 1894 und 1895 erschienene Das Dschungelbuch weltberühmt geworden. Wer kennt heute, mehr als eineinviertel Jahrhundert später, nicht das Findelkind Mogli. Ich persönlich bin ihm auf einem Notenblatt der Filmmusik zu The Jungle Book begegnet.
Kipling hat aber nicht nur unsterbliche Helden für Kinder geschaffen, sondern auch lyrische und bemerkenswerte epische Literaturtexte. In diesem Bereich war eher die Kurzform seine Sache. Selbst seine Romane sind keine dicken Schinken, sondern eher filigrane Prosastücke ohne ermüdende Ausschweifungen in unendlich ausziselierten Situationen. So richtig passend zum Taschenbuchformat sind auch die Fischerjungs.Wer diesen Bildungsroman aus der viktorianischen Zeit (1837 bis 1901) liest, wird sich zuerst mal mit Seemannsbegriffen vertraut machen müssen, die heute aus so manchem Wörterbuch der deutschen Sprache verschwunden sind. Wen wundert‘s? Rudyard Kipling hat Captains Courageons (Originaltitel) 1896 geschrieben. In der aus dem Jahre 1976 stammenden Übersetzung Nobert Jaques‘ (aus dem Englischen) stieß ich auf Begriffe wie Schoner, Segler, Jollen, Bark, Spill, Klüse, Pallpfosten, Schlopskiste, Sahling und andere. Natürlich waren die mir, einem Leser aus der Banater Hecke, nicht alle geläufig. Also hieß es, neben das kleine, dünne Büchlein erst einmal kiloschwere Wörterbücher zu legen, und wahrlich gleich mehrere, denn der neueste Duden lässt dich bei so alten Büchern ganz schön im Regen stehen. (Vorsicht bei einer eventuellen Ausmistung des eigenen Bücherregals: Keine Wörterbücher und Lexikons, und sind sie noch so alt, wegschmeißen.)
So ausgerüstet, war es dann ein Leichtes, mich mit dem Millionärssohn Harvey Cheyne und der Besatzung eines Schoners (Segelschiff mit mehreren Masten) bekannt zu machen. Und vor allem mit den rauen Lebensbedingungen der Fischer auf See. Eine international besetzte Crew formte den aus dem Meer gefischten Harvey – er war von einem großen Schiff über Bord gegangen – zu einem stand- und charakterfesten Seemann.
Der Leser folgt in Fischerjungs einer linear erzählten Handlung und kann sich dabei auch schnell vorstellen, dass Rudyard Kipling nicht nur wegen seiner eingangs erwähnten literarischen Qualitäten, sondern auch dank seiner faszinierend bildreichen, die Vorstellungskraft anregenden Sprache so erfolgreich war. Folgendermaßen ändert sich bei ihm das Wetter auf hoher See: „Bis zum Ende seiner Tage wird Harvey den Anblick nie vergessen. Die Sonne stand klar am Horizont, die Sonne, die sie fast acht Tage nicht gesehen hatten, und das rote Licht des Morgens fiel in die Toppsegel von drei Fischerflotten, die da vor Anker lagen, eine im Norden, eine im Westen, eine im Süden. Es mochten an die hundert Schoner sein von jeder möglichen Bauart und Form, weit weg ein quergetakelter Franzose, alle sich verneigend und einander begrüßend. Aus jedem Boot schwärmten Jollen aus, wie Bienen aus einem überfüllten Stock, und das Stimmengewirr, das Knarren der Taljen und Blöcke und das Aufklatschen der Ruder scholl meilenweit über das wogende Wasser.“
Apropos Bildungsroman: Der Reifungsprozess Harveys ist der unterschiedlichen Charaktere, die auf dem Schoner mit dem ungewöhnlichen Namen „Das sind wir“ ihren Lebensunterhalt verdienen, zu verdanken. Der Junge hört einfach zu. Hier entpuppt Rudyard Kipling sich auch als ein hervorragender Dialog-Schreiber. Und was die Disziplin anbelangt: Harvey kommt mit einer Ohrfeige davon. Also ist es mit der sprichwörtlich viktorianischen Erziehung nicht allzu ernst gemeint in und nach Königin Viktorias Zeit, zumindest nicht auf diesem Segelschiff.
Und dann gibt es zum Schluss des Romans diesen markanten naturalistischen Anstrich. „Gedächtnistag“ in Gloucester (USA / Bundesstaat Massachusetts / Ostküste), dem Heimathafen des Schoners „Da sind wir“, heißt, dass die „Namen der Schiffer, die ertrunken oder verschollen sind“ vorgelesen werden. Für viele Frauen und Kinder, aber auch Eltern, Verwandte und Freunde hat dieser Feiertag einen sonderlichen „Glanz“, auch wenn er als Volksfest aufgezogen wird. Damals, zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, verlangte das Meer dem Menschen noch größere Opfer ab als heute.
Es gibt mehrere Verfilmungen dieses Romans. Die erste stammt aus dem Jahr 1937 und ist besetzt mit so berühmten Namen wie Spencer Tracy, Freddie Bartholomew, Lionel Barrymore, Melvyn Douglas, Mickey Rooney und John Carradine. Auch ein Musical wurde dem Stoff gewidmet und kam 1999 am Broadway auf die Bühne.
Vier Jahre lang hat Rudyard Kipling auch in Amerika gelebt, von 1892 bis 1896. Gestorben ist er 1936 in London. Sein Roman Captains Corageons hat mehrere deutsche Auflagen erlebt, die verschiedene Titel tragen: Die mutigen Kapitäne, Brave Seeleute, Über Bord, Junge Abenteuer auf See und Fischerjungs.
Und mein Großvater? Er hat das Meer nie gesehen und wahrscheinlich nie etwas von Rudyard Kipling gehört. Aber das Wasser hat in seinem Leben doch eine lebenswichtige Rolle gespielt. Auf einem deutschen Lazarettschiff brachte man ihn von Rumänien donauaufwärts nach Wien, um ihm das Leben zu retten. Ein Leben ohne Beine. Da war Kipling schon sieben Jahre tot.
Anton Potche
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