Montag, 13. Juni 2022

Nicht ganz vergeudet

Gregor von Rezzori: Der Tod meines Bruders Abel – Roman; Wilhelm Heyne Verlag München, 1983; ISBN 3-453-01919-9; DM 12,80 (ist noch bei verschiedenen Online-Anbietern erhältlich)

Was ist denn das für ein verrücktes Buch? Da versucht ein Ich-Erzähler über 667 Seiten lang von einem Buch zu erzählen, das er zu schreiben gewillt ist, aber nie dazu kommt, es wirklich zu schreiben. Dabei ist dieses Buch, ich meine das wirkliche, eine Aneinanderreihung von Monologen, die der unglücklich agierende Gerne-Romanschreiber – er betätigt sich auch in der Filmbranche – mit verschiedenen Personen aus dem Literaturbetrieb führt. Besser gesagt, er erzählt ihnen von seinem Leben, das 1919 in Bessarabien aus dem Schoß einer vermutlich nicht besonders wählerischen Frau in Sachen Männer seinen Anfang nahm.

Das sind eigentlich keine besonders günstigen Voraussetzungen für ein gesundes Selbstbewusstsein. Ein Selbstporträt des nimmermüden Erzählers klingt dann so: „Ich bin nichts. Nicht allein ein Staatenloser im bürgerrechtlichen Verstand, sondern ein Wurzelloser von Geblüt, déraciné par axcellence: ein wahrhaft Vaterlands- und Vaterloser, ein Kerl, der nicht weiß, wer sein Erzeuger ist, dessen Mutter ihre Sippe, ihr Volk verlassen und verraten hat, ein Bursche ohne Hin- und Zugehörigkeit, ungetauft, ohne Glauben, verdächtig polyglott und ledig jeder Bindung an einen Stamm, an eine Fahne … aber natürlich auf der Suche nach alledem.“

Man erfährt so nebenbei allerhand aus der Geschichte Europas und wie sie den glücklosen Romanschreiber, der seine Notizen auf losen Blättern über den halben Kontinent schleppt, ohne etwas Vernünftiges damit anzufangen, beeinflusst. Unzählige seitenlange Abschweifungen, Philosophierereien, von denen man nicht so recht weiß, was man halten soll, und immer wieder Einwürfe in anderen Sprachen (ohne Fußzeilen – für einen Nichtfremdsprachler wie ich ziemlich ärgerlich) lassen einen, wahrscheinlich gar nicht angestrebten, Erzählfluss nicht zu.

Es ist manchmal mühsam, dem Wissenspotential des Autors, also Rezzoris, zu folgen. Man will ja beim Lesen eines Romans nicht ständig zum Lexikon greifen oder bei Wikipedia surfen. Ein Leser will doch auch vorwärts kommen. Oder er ist stolz, einen Bildungsroman zu lesen, wenn er mit Namen wie Herakles, Blaise Pascal, Oscar Wilde u.a. konfrontiert wird. Es sei denn, er ist Banater Schwabe wie ich und genießt poetische Formulierungen, die ihn zurück in eine Welt führen, von der er so „abgeschnitten“ ist wie der Ich-Erzähler von seiner, die er stets „verlorene Lebenshälfte“ nennt: „Bessarabien – dort, weit, weit über den Feldern, an den Waldstreifen und Auen des Pruth, wo die fernhin durchs Land geschnürten Pappeln an den großen Straßen westwärts liefen – îți mai aduci aminte, domnule Brodny?“ (Endlich auch eine Fremdsprache ohne Fußzeilenbedarf für mich.) Brodny ist eine jener Romanfiguren, denen der Ich-Erzähler, seine Lebensgeschichte, oder Teile davon, erzählt.

Aber wer ist Abel? Der durch die Geschichte Europas reisende glücklose Romancier mit bessarabischen Wurzeln, die tief ins Habsburgische hineinreichen (Onkel Ferdinand), stellt ihn, seinen Bruder Abel, so vor: „hochbegabt, ernst, blond, jungmännlich stämmig, fleißig, zuverlässig – alles, was ich nicht bin, nicht war“. Hat nicht Kain Abel erschlagen?, fragte ich mich bei dieser Passage. Wie auch immer …

Das hier ist ein sehr vielschichtiges Buch. Man weiß oft nicht, was man davon halten soll. Der Ich-Protagonist ist mit all seinen Minderwertigkeitskomplexen ein Frauenheld. Und Rezzori schmückt diese schon nach Sexsucht tendierende Ader mit einer den jeweiligen Umständen entsprechenden Sprache aus. Etwa so: „Gott bewahre, ich landete nun doch mit ihr in einem Bett – oder auf dem Divan hinter der Portiersloge, auf dem Billardtisch im Gästezimmer, auf einem Haufen gerollter Teppiche im Treppenflur – ein Überfall: wortlos, brutal, eine willig stattgegebene Vergewaltigung: die Fäuste in ihren Arsch gekrallt, das gefletschte Gebiß schäumend zwischen ihren wundervollen Titten, ihre Kniekehlen über meine Achseln gerenkt, kunstgerecht tierisch wie‘s ihrer üppigen, verschweißten, hennarot gefärbten Frauenreife entspricht.“

Das ist Rezzori, wie er leibt und lebt. Vielleicht wollte er sich nur über Männerfantasien (unerfüllte, na klar) lustig machen. Auf jeden Fall helfen auch solche Passagen im Buch über die manchmal mühevollen Leseversuche seitenlanger, meditierender, auch palavernder Sätze hinweg. Dabei ist der Autor schon um einen Lesefluss bemüht. Das versucht er mit einer ungewohnten Kleinschreibung am Anfang vieler (nicht aller) Textabsätze. Der Roman ist 1976 erschienen. Da war die Zeit der abgebrochenen chronologischen Handlungen im Romangenre längst angebrochen. Man kann hier Gregor von Rezzori (1914 – 1998) in eine Reihe mit Proust, Joyce, V. Woolf, Broch u.a. nennen. Er führte die vielschichtigen und widersprüchlichen Strukturen der modernen Realitätsbewältigung (nach zwei vernichtenden Kriegen) in der Form seiner Erzählweise weiter.

Der in Czernowitz geborene Rezzori war nicht nur Schriftsteller, er war auch Schauspieler und schrieb selber Drehbücher. Mit dem Roman Der Tod meines Bruders Abel ist ihm ein Stück Prosa gelungen, das gleichwohl polarisieren als auch ermüden kann. Ich zumindest bereue es nicht, Zeit damit verbracht zu haben. Sie war nicht (ganz) vergeudet.

Anton Potche


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