Mittwoch, 6. Juli 2022

Die Macher. Literatur in Ingolstadt

Sie sind in Sachen Literatur die Macher in Ingolstadt: Jens Rohrer und vor allem Michael von Benkel, zwei Autoren mit vielen Buchveröffentlichungen und organisatorischen Aktivitäten im Bereich Literatur. Sie sind auch die Antriebsfedern im in der Stadt an der Donau existierenden Ingolstädter Autorenkreis. Bisher war es so, dass Mitglieder dieses Literaturkreises stets die Ingolstädter Literaturtage mit einer Literarischen Nacht, in der mehrere Mitglieder dieses Kreises aus ihren Arbeiten lasen, ausklingen ließen. Heuer war es umgekehrt: Neun Autorinnen und Autoren aus Ingolstadt und der Region haben mit einer Lesung aus ihren aktuellen Texten (fertig oder noch in Arbeit) die 29. Ingolstädter Literaturtage am 18. Juni 2022 eröffnet – und zwar in einem herrlichen Sommerambiente auf dem Dachgarten des Künstlertreffs KAP94 am in Ingolstadt beliebten Künettegraben. Beendet wird der Ingolstädter Lesemarathon heute Abend (6. Juli) mit einem Auftritt der Teilnehmer eines Rap- und eines Poetry-Slam-Workshops um 18. Uhr auf dem Theatervorplatz in Ingolstadt.

Florian Mändl
Zwei der neun Autoren und Autorinnen, die in der Literarischen Nacht gelesen haben, sind keine Mitglieder des Ingolstädter Autorenkreises, könnten es aber noch werden, denn das Zeug dazu haben sie allemal. Sie sind (zwei von zehn) Preisträger des schon lange zu den Ingolstädter Literaturtagen gehörenden Schreibwettbewerbs für Schüler und Schülerinnen. Heuer lautete das vorgegebene Thema „Fantastische Reisen durch die Zeit“. Florian Mändl vom Reuchlin Gymnasium (Q11) hat einen Text über die Künstliche Intelligenz (KI) verfasst und dabei nicht nur euphorische Töne angeschlagen. Ein zukünftiges Zurück klingt bei dem Jungschriftsteller letztendlich dann so: „Was passieren wird, wissen wir erst mit absoluter Sicherheit, wenn die Dinge schon geschehen sind. Deshalb sind Zeitreisen in die Vergangenheit sicherer. Dank umfangreicher Forschung wissen wir viel über sie, und vor allem eins macht die Reisen in die Vergangenheit gewisser: Die Dinge haben sich bereits ereignet und sind unveränderbar.“ Der Text hat auch in den Dialogen starke essayistische Passagen. Ich habe bei Mändls Lesung auch ab und zu an Erich von Däniken gedacht. Pseudowissenschaft macht sich in der Literatur manchmal ganz gut.

Lukas Endtner scheint sogar bei den Vorlesern der Literaturfestspiele in Klagenfurt abgeguckt zu haben, obwohl er erst die 8c im Katharinen-Gymnasium besucht. Auch dort, an Bachmanns Geburtsstädte, soll es schon vorgekommen sein, dass der ein oder andere Konkurrent die Jury aufs Korn genommen hat. Involviert ist in Endtners Geschichte auch der Deutschlehrer des Ich-Erzählers und letztendlich der gesamte Schreibwettbewerb für Schüler/-innen. Der Junge hat auf jeden Fall mit seiner stupenden Fantasie den wohl stärksten Applaus des Abends – Pardon, der Nacht – eingeheimst. Zeit zu reisen heißt seine ziemlich turbulente Geschichte. Etwas Konzentration ist hier beim Zuhören schon gefragt.

Den Einstieg in die Lesereihenfolge der schon mehr oder weniger etablierten Literaturschaffenden machte Susanne Feiner, der bekannteste Name in dieser Runde, mit der Erzählung Als mich die große Freiheit anrief. „Ich konnte schließlich schreiben, was immer ich wollte in meinem Land. Das musste man wertschätzen, das war nicht selbstverständlich. Und immerhin hatte ich der Großen Freiheit soeben schon ein Stückchen weitergeholfen. Vielleicht halfen andere ihr ja auch noch. Und dann konnte sie richtig durchstarten. Seltsam, dachte ich, während ich mich an den Schreibtisch setzte. Ich hatte immer geglaubt, wir alle wären auf die Große Freiheit angewiesen. Und jetzt auf einmal merke ich, es war genau umgekehrt.“ Ein sehr feinsinnig aufgebauter Text ist das, der uns zeigt, dass Freiheit kein Selbstläufer ist. Sie muss täglich verteidigt werden.

Auch Lyrik gab es in dieser Literarischen Nacht. Bei viel Vogelgesang und untergehender Sonne. Das hat wirklich sehr gut ins Gesamtkonzept dieser Veranstaltung gepasst. Die Dichterzunft wurde von Andreas Wieland-Freunds vertreten. Und das gut, kann man sagen, wenn es da heißt: „Im Netz nicht das zarteste Zittern, / Nicht der Hauch einer Berührung, / Nichts, was einer Spinne Beine machen könnte.“ (Vollkommener Stillstand) oder „Schau die Wellen, / Wie sie anrollen, / Ihre Kämme schmücken / Blütenweiße Kronen, / Komm, erzähl von den Bergen aus Wasser, / Die nicht stehen bleiben, / Sei ruhig erschrocken, / Dass sie so leise sind / Und staubtrocken.“ (Das Meer) (Niederschrift nach Vortrag.) Das sind Naturgedichte, aber auch Sozialgedichte, wenn sie so klingen: „Haben sie mich doch wieder zusammengeflickt, / Nur was keine Knochen hat, / Ist auf der Strecke geblieben, / Gerade stand ich vor‘m Fahrkartenautomaten. / Muss mir Zeit lassen, / Mich verabschieden von der Leichtigkeit / Im Umgang mit Zügen.“ (Flashback). So hat Lyrik nichts Langweiliges und vor allem nichts Unverständliches an sich. Und gute Poesie sollte politisch sein. (Zumindest nach meinem Geschmack.) Und wenn sie dann auch noch kurz und einprägsam ist, stammt sie aus der Feder eines wahren Dichters. Andreas Wieland-Freunds gehört dazu.

Dann kam Jens Rohrer, der „einzig wahre Literaturguerilla, den wir in Ingolstadt haben“, wie Michael von Benkel ihn nannte. Er hat aus seinem Roman Von der Rettung der Welt und kleinen Pelztierchen sowie aus einem Manuskript, in dem es auch um die Rettung der Welt geht gelesen. „Also auf jeden Fall wird die Welt gerettet.“ (Originalton). Der Held des Romans heißt Friedhelm und die Aggressoren sind diesmal nicht die Russen, sondern die Chinesen. Nichts ist bei Rohrer todernst. Und seine satirische Art zu schreiben und vorzulesen kommt beim Publikum gut an.

Wie ist das mit den lieben Nachbarn? Davon können viele ein Lied singen und sich dabei in Cinzia Tanzellas Erzählung Balkonien und die Nachbarn wiederfinden. Verrückte Sachen passieren da in einem Mietshaus. Und eine sich nach Urlaubsfeeling sehnende Frau ist mittendrin. „Es lebe der Sommer, es leben die Sommerabende, es lebe mein Balkon.“ Das geht doch schon mal vielversprechend los. Und es geht auch gut aus. Nur was dazwischen liegt, ist turbulent. Dazu passt die klare Stimme der Autorin mit dem ausländisch angehauchten Akzent sehr gut.

Dass heimische Autorinnen dieses Format der Literaturpräsentation ernst nehmen, zeigt eine Absage aus persönlichen Gründen. Beatrix ChaBé Müller war kurzfristig verhindert und kümmerte sich darum, dass ihr Text trotzdem zum Publikum kam. Brunhilde Deutscher sprang ein und las Geschichten … auch über chaotische Zustände: Lars über das Chaos der Welt in seiner Wohnung. Die Autorin hat 2020 viele Kurzgeschichten verfasst und für diesen Abend eine Chaos-Collage zusammengestellt, die so manches Schmunzeln in den Gesichtern der Zuhörer hervorgerufen hat.

Susanne Rasch las von einer Mutter, die eine Auszeit richtig notwendig hatte. Die Einblicke, die sie dabei in ein Familienleben gewährt, können bestimmt von vielen Müttern nachempfunden werden. Und dass die einer Flucht ähnliche Auszeit nicht unbedingt die erhoffte Entspannung für eine Frau mit Kindern, Ehemann und Haushalt bringt, hat wohl auch in dieser literarischen Nacht niemand überrascht. Basteln mit Kastanien kann entspannend wirken, doch wohl nicht wenn die wuselnden Kleinen und der Mann um einen herum sind, wie es in Susanna Raschs Geschichte der Fall ist.

Michael von Benkel
Fotos: Anton Potche
Zum Schluss hat Michael von Benkel gelesen. Und was er las, hat schon viel mit der Volksweisheit zu tun: "Wer den Schaden hat, hat auch den Spott." Aktualität pur unter   den Titeln Kirchengeschlecht und Flüchtlingskrise - „die   bösesten Geschichten, die ich je geschrieben habe.“  Angeprangert wird die nicht existierende  Gendergerechtigkeit in der Kirche, „kein Fünkchen Gleichheit bei den Geschlechtern. Das fängt schon damit an, dass die größte Kirche in unserer Stadt Liebfrauen-Münster heißt. […] Und auch in München gibt es eine Frauenkirche, ebenso in Dresden, die eben für viele Millionen und Abermillionen restauriert wurde. Aber weit und breit keine Männerkirche. […] Das gibt es bundesweit nicht. Wo sind wir denn? Wo bleiben denn da die Männer? Die Kirchen sind allesamt entstanden, als es das Gendering noch nicht gab. Da haben die Könige ihren Mätressen Schlösser geschenkt und die Pfarrer ihren ...“ Damit hatte Michael von Benkel natürlich die Lacher auf seiner Seite.

Diese Literarische Nacht war eine Bereicherung der Ingolstädter Literaturtage. Dazu beigetragen haben auch die Sängerin Magdalena Utzt und Christian Mayer am Piano. Zuschauer: ca. 50. Bei freiem Eintritt ziemlich wenig – für eine Stadt mit 140.000 Einwohner. Aber wenn ich mich gut entsinne, war es bei den vorherigen Nächten (zumindest als ich zuschaute) nicht viel besser.

Anton Potche


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