Montag, 18. Juli 2022

Kein ermüdender Tiefgang, aber auch keine Spur von Oberflächlichkeit

Thea Dorn & Richard Wagner: Die deutsche Seele; Albrecht Knaus Verlag, München, 2011; ISBN 978-3-8135-0451-4; 560 Seiten, Hardcover; € 38,00 [D], € 40,10 [A], CHF 51,50 [CH]; www.knaus-verlag.de; www.deutsche-seele.de.

Es gibt vielbesprochene Bücher, wenig besprochene und überhaupt nicht besprochene. Die vorliegende Textsammlung wurde reichlich rezensiert und das nicht nur im gedruckten Feuilleton. Auch die Internetgemeinde bei Amazon hat sich des Buches angenommen. 24 Rezensenten haben es besprochen und von einem bis zu fünf Sternen vergeben. Die deutsche Lesegemeinschaft hat das Erscheinen der „deutschen Seele“ also sehr wohl registriert, damals im Herbst 2011.

Was sie aber wirklich ist, diese deutsche Seele, klären weder Thea Dorn noch Richard Wagner auf. Das war wohl auch gar nicht Zweck der Sache. Es sollte eher ein kulturgeschichtlicher Ausflug, aber ohne wissenschaftliche Gelehrsamkeit, durch das Universum deutscher Befindlichkeiten sein. Und das ist ihnen auf jeden Fall gelungen; natürlich nicht zur Zufriedenheit aller Leser. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen, denn nichts ist vielschichtiger als die menschliche Wahrnehmung. Die Beweggründe Thea Dorns und Richard Wagners, ein solches Buchprojekt zu bewerkstelligen, klingt so: „Wir sind keine Pathologen – wir sind Beteiligte. Getrieben von der Sehnsucht, die Kultur, in der wir in all ihren Tiefen und Untiefen, in ihrer Größe und Schönheit, in ihren Schrullen und Fragwürdigkeiten zu erkunden.“ 

Es ist schon mal eine gute Idee, ein solches Buch zu zweit zu schreiben. Jeder für sich natürlich, mit eigenem Stil und eigener Sichtweise. Vereint zwischen Buchdeckeln ergänzen sie sich hervorragend. Wer eigentlich mit mehr Texten dazu beigetragen hat? Wenn ich mich nicht verzählt habe, liegt Thea Dorn mit zwei Texten vorne. Zur Ausgewogenheit „der deutschen Seele“ tragen also nicht so sehr die Quantität bei, sondern vor allem die Qualität und der inhaltliche Reichtum der 64 Essays. 

Aber natürlich gibt es auch Unterschiede in der Form und dem Tiefgang der Texte. Thea Dorn neigt ein bisschen zu einer romantischen Herangehensweise. Da schwingt viel Gefühl mit. Wen wunderts? Im letzten Text des Buches entblößt sie sich förmlich und lässt uns (spätestens jetzt) die Grundfärbung ihrer Haltung verstehen: „Lasst mir meine Zerrissenheit. Sie ist das Beste, was ich habe.“ Das tun wir gerne – zumindest ich.  

Richard Wagners Essays klingen geerdeter, aber sprachlich nicht weniger brillant. Und in manchen Texten spürt man einen leichten Spott mitschwingen, so nach dem Motto: Leute, nimmt doch nicht alles so tragisch. Sollte der Unterschied vielleicht sogar in der Biografie der zwei Seelenforscher liegen?

 
Merkwürdig: Dem Band sind Kurzbiografien weder vor noch nachgestellt. Nur ein Klappentext weist darauf hin, dass Thea Dorn (*1970) eine binnendeutsche Biografie vorzuweisen hat, während Richard Wagner (*1952) aus einer katholischen Diaspora in Südosteuropa – man könnte es auch als (zumindest teilweise) deutsche Enklave bezeichnen - in den deutschen Literaturbetrieb eingeschneit ist. Seine Sozialisierung in Deutschland verlief Hand in Hand mit einer Endtraumatisierung. Natürlich ergibt das zwei so unterschiedliche Blickwinkel auf die deutsche Seele, wie sie eigentlich unterschiedlicher gar nicht sein können.

Das Resultat ist ein herzerfrischendes Buch über die Deutschen, ihr Abendbrot, ihre Abendstille, aber auch ihren Abgrund – laut Heine eine „biedere Senke, die sich jedoch ertragen lässt, wenn man eine Vergangenheit hat, von der man erzählen kann, >denn die Vergangenheit ist die eigentliche Heimat [der] Seele< -, ihre Arbeitswut, bis hin zum Reinheitsgebot, zu Winnetou – nach Wagner „eine der populärsten Figuren der deutschen Kulturgeschichte“ und natürlich der Wurst.


Sollte mich irgendwann mal jemand fragen, was diese Deutschen denn so für Menschen sind, dann werde ich ihm dieses Buch empfehlen, denn es kommt aus ohne jedweden ermüdenden Tiefgang, aber auch ohne Spur von Oberflächlichkeit. Der Leser kann sich dann auch in Wort und Bild – der Band ist reich und sehr gut bebildert – selbst einen Reim auf die nie zur Genüge beantwortbare Frage nach der deutschen Seele machen. 
Anton Potche

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