Aneinanderreihung
kleiner Zufälle
Es
war 1993, als wir in Norden-Norden Urlaub machten. Und zwei
Urlaubserlebnisse haben sich mir bis heute eingeprägt. Sie scheinen
sich in meiner Erinnerung festgesetzt zu haben, fallen sie mir doch
immer wieder ein, wenn in Bekannten- und Verwandtenkreisen Urlaub
aufgetischt wird. Das erste war eine Schifffahrt von Norden-Norden
nach Norderney. Auf dem Rückweg hat uns Poseidon bei klarem Himmel
einen laut Beaufortskala „stürmischen Wind“ der Stärke 8
beschert. Also noch keinen Sturm. Der hohe Wellengang hat mir aber
gereicht, diese Fahrt auf der schaukelnden Nordsee nie zu vergessen. (Auch meine Frau und unsere Kinder haben diese Schifffahrt noch lebhaft in Erinnerung.)
Das
zweite Erlebnis habe ich meiner Zuneigung - wohlgemerkt, nur als
abseits stehender Beobachter - für Journalismus, Literatur und Kunst
zu verdanken. Als solcher sagte mir sowohl der Name Henri Nannen
als auch Otto Waalkes etwas. Nun hatten die beiden vielleicht
nicht unbedingt etwas miteinander zu tun, aber ihre intellektuelle
Aura, der eine als Journalist, der andere als Kabarettist, traf sich
in der Nordseehafenstadt Emden. Es gibt dort eine Kunsthalle
und ein Otto Huus.
Die
Kunsthalle ist eine Stiftung des Ehepaares Henri und Eske
Nannen aus dem Jahre 1986 und beherbergt ein Museum für moderne
und zeitgenössische Kunst. (Mittlerweile wurde das Museumsensemble
für eine Schenkung des Münchner Galeristen und Sammlers Otto van
de Loo erweitert.) Nun bin ich nicht unbedingt ein Schwärmer für
zeitgenössische Kunst, aber auch kein radikaler Gegner neuer
Ausdrucksformen. Und ich muss gestehen, dass ich mich heute, fast 30
Jahre später auch nicht mehr an einzelne Werke der Ausstellung
erinnere. Doch weiß ich noch genau, dass ich damals vor allem sehen
wollte, was ein Mäzenatentum des Ausgehenden 20. Jahrhunderts
überhaupt ist und welche künstlerischen Vorlieben der zur damaligen
Zeit vielleicht bekannteste deutsche Journalist und Herausgeber der
zeitweise auflagenstärkste Zeitschrift der Welt, des STERN, hatte.
Henri Nannen ist 1996 zweiundachtzigjährig gestorben. Sein
Werk, sowohl Zeitschrift als auch Museum, leben weiter.
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Henri Nannen (l.) und Victor Schuller
Foto: Jay Ullal FotoQuelle: STERN, Nr. 17 / 1997) |
Ein
Jahr später fiel mir dank meiner Schmökergewohnheit (oder gar
-manie) ein Text im STERN auf, der betitelt war mit Der Herr der
Texte – Ex-STERN-Vize Victor Schuller wird 80 (Nr.
17, April,
1997). Vielleicht hätte ich
weitergeblättert, wäre da nicht dieser Name Schuller
gewesen,
der mir immer wieder in Texten von oder über Siebenbürger Sachsen
begegnet: Schuller.
(Schuller
Hans war mal ein
Arbeitskollege von mir bei Audi in Ingolstadt. Auch
er kam aus Siebenbürgen.)
Also las ich weiter mit einer
landsmännischen Anteilnahme, um nicht gleich zu postulieren: Stolz.
Unter anderem auch: „Stets
stand Henri Nannen im Mittelpunkt, zog allen Glanz auf sich. Victor
Schuller hielt sich zurück, aber neben seinem Freund, nie dahinter.
Gern erzählt er aus der ersten Stunde dieses turbulenten
Männerbundes. Das war
während des Krieges auf einem Offizierslehrgang in Berlin. Den
beiden, die sich noch nicht kannten, wurde ein gemeinsames Zimmer mit
einem zweistöckigen Bett darin angewiesen. Sofort belegte Nannen das
obere, Schuller zog sich dezent nach unten zurück. So ist es ein
Leben lang geblieben. […] Der Gastgeber selber, einst als
Siebenbürger Sachse von Transsilvanien, dem Land hinter den Wäldern,
ausgezogen in die Welt, war ein begnadeter Erzähler.“
Am
15. Juni 2022 machte DIE ZEIT auf mit dem Titel Sinkt sein
Stern? - Henri Nannen war vielen Journalisten lange ein Vorbild. Nun
wird aufs Neue über seine Rolle im Nationalsozialismus gesprochen.
Für den Autor des Artikels, Götz
Hamann, ist klar, dass
Nannen
ein „Nazi-Propagandist“ war, dem
man eine überzeugte Anhängerschaft zum Nationalsozialismus aber
nicht nachweisen kann. Es soll jedoch
bewiesen sein, „dass er bald nach dem Krieg einige ausgewiesene
frühere Nazis in seinem Umfeld beschäftigt hat“. Schon
im STERN vom 25. Dezember 2013 konnte man anlässlich des 100.
Geburtstages von Henri
Nannen lesen: „Nicht
nur Nannen hatte Fronterfahrung, sein langjähriger Vize Victor
Schuller war ebenfalls Kriegsberichterstatter gewesen, viele
Redakteure waren an der Front und dort verletzt worden, ein Layouter
trug die Runen der SS auf den Arm tätowiert.“ Greift
man auf den STERN-Artikel vom April 1997 zurück und berücksichtigt,
dass so mancher Siebenbürger Sachse und Banater Schwabe - natürlich
nicht alle - ein glühender Anhänger des Nationalsozialismus war und
sogar in
der Waffen-SS gedient hatte,
so kann es niemand wundern, dass
Victor Schuller
auch nach dem Krieg an Henri
Nannens Seite blieb. In
der gleichen Geburtstagshommage für Nannen
steht auch der berührende Satz. „Mit
Vic
Schuller,
seinem Freund, saß er auf einer Bank, und dann versprachen sich die
beiden Alten, sie würden die Grabrede für den halten, der zuerst
sterbe.“
Das
NDR-Format STRG_F hat die
Geschichte, in der es
vorwiegend um Nannens
Rolle im Waffen-SS-Projekt Südstern,
1944 und 1945 in Italien, geht,
überhaupt erst zum Laufen gebracht. Es braucht ja wie so
oft in solchen Fällen nicht
viel, um daraus eine Lawine zu machen. SÜDDEUTSCHE ZEITUNG,
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, NDR und andere waren schnell dabei.
Und der STERN schritt am 23. Juni 2022 (Nr. 26) zur Klarstellung in
einem Editorial, einem Artikel und einem ausführlichen Essay.
Natürlich mit dem Ergebnis,
dass alles nur halb so wild ist.
Victor Schuller
wird
nicht mehr erwähnt. Er hatte
an der letzten Ruhestätte Henri
Nannens wie
versprochen eine
Rede gehalten und ist am 3.
Juli 2001 im Alter von 84 Jahren gestorben.
Anton
Potche
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