Montag, 13. März 2023

Der Freund Henri Nannens

 Aneinanderreihung kleiner Zufälle

Es war 1993, als wir in Norden-Norden Urlaub machten. Und zwei Urlaubserlebnisse haben sich mir bis heute eingeprägt. Sie scheinen sich in meiner Erinnerung festgesetzt zu haben, fallen sie mir doch immer wieder ein, wenn in Bekannten- und Verwandtenkreisen Urlaub aufgetischt wird. Das erste war eine Schifffahrt von Norden-Norden nach Norderney. Auf dem Rückweg hat uns Poseidon bei klarem Himmel einen laut Beaufortskala „stürmischen Wind“ der Stärke 8 beschert. Also noch keinen Sturm. Der hohe Wellengang hat mir aber gereicht, diese Fahrt auf der schaukelnden Nordsee nie zu vergessen. (Auch meine Frau und unsere Kinder haben diese Schifffahrt noch lebhaft in Erinnerung.)

Das zweite Erlebnis habe ich meiner Zuneigung - wohlgemerkt, nur als abseits stehender Beobachter - für Journalismus, Literatur und Kunst zu verdanken. Als solcher sagte mir sowohl der Name Henri Nannen als auch Otto Waalkes etwas. Nun hatten die beiden vielleicht nicht unbedingt etwas miteinander zu tun, aber ihre intellektuelle Aura, der eine als Journalist, der andere als Kabarettist, traf sich in der Nordseehafenstadt Emden. Es gibt dort eine Kunsthalle und ein Otto Huus.

Die Kunsthalle ist eine Stiftung des Ehepaares Henri und Eske Nannen aus dem Jahre 1986 und beherbergt ein Museum für moderne und zeitgenössische Kunst. (Mittlerweile wurde das Museumsensemble für eine Schenkung des Münchner Galeristen und Sammlers Otto van de Loo erweitert.) Nun bin ich nicht unbedingt ein Schwärmer für zeitgenössische Kunst, aber auch kein radikaler Gegner neuer Ausdrucksformen. Und ich muss gestehen, dass ich mich heute, fast 30 Jahre später auch nicht mehr an einzelne Werke der Ausstellung erinnere. Doch weiß ich noch genau, dass ich damals vor allem sehen wollte, was ein Mäzenatentum des Ausgehenden 20. Jahrhunderts überhaupt ist und welche künstlerischen Vorlieben der zur damaligen Zeit vielleicht bekannteste deutsche Journalist und Herausgeber der zeitweise auflagenstärkste Zeitschrift der Welt, des STERN, hatte. Henri Nannen ist 1996 zweiundachtzigjährig gestorben. Sein Werk, sowohl Zeitschrift als auch Museum, leben weiter.

Henri Nannen (l.) und Victor Schuller
Foto: Jay Ullal
FotoQuelle: STERN, Nr. 17 / 1997)
Ein Jahr später fiel mir dank meiner Schmökergewohnheit (oder gar -manie) ein Text im STERN auf, der betitelt war mit Der Herr der Texte – Ex-STERN-Vize Victor Schuller wird 80 (Nr. 17, April, 1997). Vielleicht hätte ich weitergeblättert, wäre da nicht dieser Name Schuller gewesen, der mir immer wieder in Texten von oder über Siebenbürger Sachsen begegnet: Schuller. (Schuller Hans war mal ein Arbeitskollege von mir bei Audi in Ingolstadt. Auch er kam aus Siebenbürgen.) Also las ich weiter mit einer landsmännischen Anteilnahme, um nicht gleich zu postulieren: Stolz. Unter anderem auch: „Stets stand Henri Nannen im Mittelpunkt, zog allen Glanz auf sich. Victor Schuller hielt sich zurück, aber neben seinem Freund, nie dahinter. Gern erzählt er aus der ersten Stunde dieses turbulenten Männerbundes. Das war während des Krieges auf einem Offizierslehrgang in Berlin. Den beiden, die sich noch nicht kannten, wurde ein gemeinsames Zimmer mit einem zweistöckigen Bett darin angewiesen. Sofort belegte Nannen das obere, Schuller zog sich dezent nach unten zurück. So ist es ein Leben lang geblieben. […] Der Gastgeber selber, einst als Siebenbürger Sachse von Transsilvanien, dem Land hinter den Wäldern, ausgezogen in die Welt, war ein begnadeter Erzähler.“

Am 15. Juni 2022 machte DIE ZEIT auf mit dem Titel Sinkt sein Stern? - Henri Nannen war vielen Journalisten lange ein Vorbild. Nun wird aufs Neue über seine Rolle im Nationalsozialismus gesprochen. Für den Autor des Artikels, Götz Hamann, ist klar, dass Nannen ein „Nazi-Propagandist“ war, dem man eine überzeugte Anhängerschaft zum Nationalsozialismus aber nicht nachweisen kann. Es soll jedoch bewiesen sein, „dass er bald nach dem Krieg einige ausgewiesene frühere Nazis in seinem Umfeld beschäftigt hat“. Schon im STERN vom 25. Dezember 2013 konnte man anlässlich des 100. Geburtstages von Henri Nannen lesen: „Nicht nur Nannen hatte Fronterfahrung, sein langjähriger Vize Victor Schuller war ebenfalls Kriegsberichterstatter gewesen, viele Redakteure waren an der Front und dort verletzt worden, ein Layouter trug die Runen der SS auf den Arm tätowiert.“ Greift man auf den STERN-Artikel vom April 1997 zurück und berücksichtigt, dass so mancher Siebenbürger Sachse und Banater Schwabe - natürlich nicht alle - ein glühender Anhänger des Nationalsozialismus war und sogar in der Waffen-SS gedient hatte, so kann es niemand wundern, dass Victor Schuller auch nach dem Krieg an Henri Nannens Seite blieb. In der gleichen Geburtstagshommage für Nannen steht auch der berührende Satz. „Mit Vic Schuller, seinem Freund, saß er auf einer Bank, und dann versprachen sich die beiden Alten, sie würden die Grabrede für den halten, der zuerst sterbe.“

Das NDR-Format STRG_F hat die Geschichte, in der es vorwiegend um Nannens Rolle im Waffen-SS-Projekt Südstern, 1944 und 1945 in Italien, geht, überhaupt erst zum Laufen gebracht. Es braucht ja wie so oft in solchen Fällen nicht viel, um daraus eine Lawine zu machen. SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, NDR und andere waren schnell dabei. Und der STERN schritt am 23. Juni 2022 (Nr. 26) zur Klarstellung in einem Editorial, einem Artikel und einem ausführlichen Essay. Natürlich mit dem Ergebnis, dass alles nur halb so wild ist. Victor Schuller wird nicht mehr erwähnt. Er hatte an der letzten Ruhestätte Henri Nannens wie versprochen eine Rede gehalten und ist am 3. Juli 2001 im Alter von 84 Jahren gestorben.

Anton Potche


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