Montag, 8. Mai 2023

Aber so spielt das Leben

Dr. Andreas Schleef & Holger Merten: La Vida Pasa – Andreas Schleef ganz persönlich; Stadt Ingolstadt – Stadtarchiv, 2022; ISBN 978-3-932113-91-8; 24,90 Euro.

Es ist ganz interessant, die Autobiografie eines Menschen zu lesen, den man kennt, also vermeintlich kennt, denn er kennt dich nicht. So ergeht es mir mit dem Autor des Buches La Vida Pasa. Viermal im Jahr saßen wir uns gegenüber. Also nicht direkt, sondern auf Sichtweite, Andreas Schleef und ich. Er war Personalvorstand bei Audi und als solcher anwesend in den Betriebsversammlungen des Autobauers. Ich spielte im Werkorchester; und Betriebsversammlungen bei Audi in Ingolstadt ohne Musik gab es nie. Im Buch lesend, stieß ich dann noch auf eine Gemeinsamkeit in unseren Lebensläufen: Oradea / Großwardein, eine Stadt im Nordwesten Rumäniens. Ich absolvierte 1974 – 1975 dort meinen Militärdienst und Andreas Schleef bekam im Jahre 2003 den Ehrendoktortitel der Universität Oradea.

Eigentlich ist La Vida Pasa eine Familienvita, denn auch Schleefs Gattin, Juta Schleef, hat einen wesentlichen Anteil am Erstellen dieses Buches. Es kommt einem beim Lesen vor, als würde man mit zwei Menschen an einem Tisch sitzen und ihren Worten lauschen, die in zweifarbigem und differenziertem Schriftbild in einer Niederschrift festgehalten wurden: seine in schwarzer, normal formatierter Druckschrift und ihre in rotbrauner Kursivschrift.

La Vida Pasa ist eine spanische Redewendung, die deutsch mit „das Leben passiert“ übersetzt werden kann. Andreas Schleefs Leben „passiert(e)“auf drei Ebenen: Wirtschaft, Familie, Politik. Und er erzählt frei weg von jedem dieser drei Leben, jedes auf seiner Ebene, mit Erfolgen und Rückschlägen, Freude und Leid. Er nimmt auch kein Blatt vor den Mund und klingt sehr ehrlich, wenn er mit Stolz und Dankbarkeit erzählt, dass er „in der deutschen Industrie eine Ausnahme [ist], weil [er] der einzige Personalvorstand [war], der fünf Verträge bekommen hat.“ Und das verdankt er, man spürt es von der ersten bis zur letzten Seite des Buches, nicht nur, aber in erheblichem Maße einem Mann, und das war kein geringerer als der geniale Ingenieur und Konzernlenker Ferdinand Piëch.

Das fünfte von den sieben Kapiteln des Buches trägt den Titel Piëch und Schleef. Schleef schreibt hier keine schleimige Huldigung auf seinen zweiten Audi-Vorstandsvorsitzenden aus der Reihe der sechs, die er in Ingolstadt überlebt hat – danach wurde er für fünf Jahre „El Presidente“ bei Seat -, sondern gewährt tiefe Einblicke in das Gehirn einer Konzernzentrale. Ich bin überzeugt, dass die Uhren in den Vorstandsetagen vieler (vielleicht sogar aller) Großunternehmen ähnlich ticken, wenn ich Andreas Schleef so zitiere: „Sie kommen als Vorstand nicht in einen Streichelzoo, sondern in einen Raubtierkäfig. […] Je nach Psychogramm des anderen Vorstandes musste ich schon ein gewisses Machtstreben mitbringen. Nicht alle waren einem wohlgesonnen, nicht alle von der hehren Aufgabe getrieben. […] Je nach Situation des Unternehmens ist man von Leuten umgeben, die einem vieles nicht gönnen, die einen negativ angehen bis hin zur Feindschaft. […] Es ging los, wenn es fünf oder sechs Vorstände waren, da konnten Sie zu 80% sagen, die anderen sind mindestens nicht ihr Freund. Freundschaften gab es in diesen Gremien nicht.“

Auch wenn Andreas Schleefs (*1943) Verhältnis zu Ferdinand Piëch (1937 - 2019) vielleicht nicht als „Freundschaft“ bezeichnet werden kann, so muss es doch innig gewesen sein, denn zur Präsentation dieses Buches, dieses sehr lesenswerten Buches, schrieb der DONAUKURIER am 20. Mai 2022 unter dem Titel Biografie wirft Spenden ab: „Weitere 2000 Euro stiftete die Familie Piëch, die dem früheren Audi-Personalvorstand eng verbunden ist.“

Beide Männer, Schleef und Piëch, werden bestimmt vielen Audi-Mitarbeitern meiner Generation in Erinnerung bleiben. Dazu wird auch dieses Buch seinen Beitrag leisten. Es besticht durch die Texte und viele (auch großformatige über zwei Seiten) Bilder aus dem Leben des Andreas Schleef und seiner Arbeitsplätze, vorwiegend der Audi AG, aber auch durch viel Persönliches und zutiefst Menschliches aus einem bewegten Leben.

Schleef arbeitete von 1973 bis 2008 in diesem Unternehmen, zuletzt als Generalbevollmächtigter; und meine Wenigkeit, jetzt sein Leser, von 1985 (sein erstes Vorstandsjahr) bis 2015, zuletzt als Altersteilzeitler in der Mechanischen Abteilung. Zwei Viten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können und sich jetzt leider ihrem Ende zuneigen. Aber so spielt das Leben: La Vida Pasa.

Anton Potche

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