Montag, 13. Mai 2024

Von wo kennt Iris Wolff meine Geschichte?

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt; Klett-Cotta, Stuttgart, 2020 (13. Auflage 2021); ISBN 978-3-608-98326-5; Hardcover; 213 Seiten; € 20.

Die Schriftstellerin Iris Wolff sagte im September 2012 in einem Interview mit der SIEBENBÜRGISCHE ZEITUNG: „Ich habe die Romanhandlung in Michelsberg angesiedelt, weil mir die Nähe zu Hermannstadt wichtig und das Dorf durch seine Lage einmalig schön ist: Die Basilika ist eines der wenigen aus der Ansiedlungszeit erhaltenen Bauwerke, man sieht von dem Michelsberg weit ins Land hinein, dann der Silberbach und der Halbe Stein, ein Naturmonument aus der Kreidezeit.“ Es handelt sich hier um ihren ersten Roman, Halber Stein.

Das Internetportal meinbezirk.at hatte für den 20. November 2015 eine Lesung mit Iris Wolff aus ihrem zweiten Roman, Leuchtende Schatten, in der Landesmusikschule Wels Dreiklang-Herminenhof mit folgendem Satz angekündigt: „Eine Familiengeschichte und die Freundschaft zweier heranwachsender, ungleicher Mädchen rund um die politischen Ereignisse der Jahre 1943 und 1944 im siebenbürgischen Hermannstadt stehen im Zentrum von Iris Wolffs neuem Roman um Freundschaft, Liebe und einen schnellen, unsanften Abschied von der Kindheit.“

In literaturkritik.de konnte man zu Wolffs drittem Roman, So tun, als ob es regnet, im Dezember 2017 lesen: „Wir lesen staunenswert klar beobachtete oder erdachte Szenen, deren geschickt inszenierte Verbindungen die Geschichte einer siebenbürgischen Familie entstehen lassen – eine interkulturelle Geschichte selbstverständlich.“

Als vierter im Bunde der Wolff-Romane ist Die Unschärfe der Welt im Corona-Jahr 2020 erschienen. Diesmal bei Klett-Cotta, die vorherigen Bände wurden vom Salzburger Otto Müller Verlag ediert. Andreas Platthaus sieht in diesem Roman „eine Metapher für die Ausreise, aber keine, die als Kritik an Menschen zu verstehen wäre, die dem Untragbaren nicht länger standhalten wollen, sondern eine, die jene seelische Last deutlich macht, die auch nach der Befreiung von der Tyrannei nicht abgeschüttelt werden kann.“ (FAZ, 27.08.2020)

Dreimal Siebenbürgen und das vierte Mal kommt noch das Banat dazu. Das sind die atmosphärischen und geografischen Grenzmarken, in denen sich die Romanfiguren der 1977 in Hermannstadt / Siebenbürgen geborenen und zeitweise in Semlak / Banat ihre Kindheit verbringenden Iris Wolff bewegen.

Unscharf heißt noch lange nicht konturlos. Aber Unschärfe hat viel mit Andeutung zu tun. Mit Nichtausgesprochenem. Und diese Schwebezustände musst du zuerst mal zu Papier bringen. Die sich verwebenden Charakterlinien in einem mit milden Farbtönen gezeichneten Alltag in einem evangelischen Pfarrhaus am Rande des Banats, ergeben ein literarisches Gemälde, das man sich mit etwas Fantasie auch eingerahmt, an einer Wand hängend vorstellen kann. Iris Wolff hat nicht nur Deutsche Sprache, Literatur- und Religionswissenschaft studiert, sondern auch Grafik und Malerei … die in ihren Worten so aussieht: „ Es gab das Grau des Himmels. / Den Fluss und die Weiden. / Die weite Ebene und die Einsamkeit. / Es gab den Rand und die Mitte. / Das Ja und das Nein. / Die Ungewissheit.“ Das ist unverkennbar von Prosa ummantelte Lyrik. Schön!

Die Unschärfe der Welt erzählt von einer Minderheit in der Minderheit. Die Banater Schwaben waren großteils katholisch. Nur wenige deutsche Dorfgemeinschaften waren evangelisch: Liebling, Semlak, Uiwar. Diese Glaubensgemeinschaften importierten ihre Priester aus Siebenbürgen. Oder sie wurden ihnen von dort zugeteilt. Auch Hannes und Florentine waren ein Priesterehepaar aus Siebenbürgen. (Priesterehepaare gibt es bei den Katholiken noch nicht.) Ihr Sohn Samuel kam in Arad, im Norden des Banats liegende Hauptstadt des Kreises Arad, zur Welt. In kommunistischen Gesundheitsverhältnissen, die schon auf den ersten Romanseiten den Dauernebel, der jegliche Konturenschärfe zu verwischen droht, über Land und Leute herabsinken lassen, geschieht Unfassbares … für Nichtrumäniendeutsche. Aber nicht für Rumäniendeutsche, Rumänen und andere mitwohnende Nationalitäten.


Vielen von ihnen ging es wie Hannes, der vor dem Krankenhaus wartete: „Besuch war nicht erlaubt, nicht einmal zur Geburt, nicht einmal dem eigenen Mann. Trotz der ersten Anzeichen des Frühlings war es kalt, an manchen Stellen lag noch Schnee. Der Winter hielt sich daran fest, uneinsichtig, widerspenstig. […] Die Schwestern versammelten sich vor dem Fenster. / >Da steht ein Mann auf einem Autodach.< / Florentine lächelte. / >Sagt ihm, es ist ein Junge und er hat kleine Ohren.<

Herrgott nochmal! Von wo kennt Iris Wolff meine Geschichte? Genau so. Fast genau so. Nur ohne Autodach. Aber mit einem widerspenstigen Pförtner.

Zăpadă heißt das erste Kapitel, Echo das zweite, Leviathan das dritte, ihm folgt Windwanderer, dann Makromolekular und als sechstes Jupiter, gefolgt als letztes von Prestigio. Es passiert einiges in diesen Kapiteln, ohne allerdings in uferlose Erzählstränge mit vielen Spannungsbögen auszuarten. Die Handlung, nicht immer linear, bleibt auch nicht auf einen Pfarrhaushalt und das ihn umgebende Dorf beschränkt. Nein. Es geht auch hinaus in die weite Welt. Und das alles in einer poetisch schön ausgefärbten Sprache, der auch die eine oder andere Lebensweisheit nicht fehlt: „Etwas kann so oft und eindrücklich erzählt werden, dass man meint, sich selbst daran zu erinnern.“

Ja, dieser Maxime Iris Wolffs schließe ich mich als Leser gerne an und empfehle dieses Buch wärmstens weiter.
Anton Potche

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