Die Unschärfe der Welt erzählt von einer Minderheit in der Minderheit. Die Banater Schwaben waren großteils katholisch. Nur wenige deutsche Dorfgemeinschaften waren evangelisch: Liebling, Semlak, Uiwar. Diese Glaubensgemeinschaften importierten ihre Priester aus Siebenbürgen. Oder sie wurden ihnen von dort zugeteilt. Auch Hannes und Florentine waren ein Priesterehepaar aus Siebenbürgen. (Priesterehepaare gibt es bei den Katholiken noch nicht.) Ihr Sohn Samuel kam in Arad, im Norden des Banats liegende Hauptstadt des Kreises Arad, zur Welt. In kommunistischen Gesundheitsverhältnissen, die schon auf den ersten Romanseiten den Dauernebel, der jegliche Konturenschärfe zu verwischen droht, über Land und Leute herabsinken lassen, geschieht Unfassbares … für Nichtrumäniendeutsche. Aber nicht für Rumäniendeutsche, Rumänen und andere mitwohnende Nationalitäten.
Montag, 13. Mai 2024
Von wo kennt Iris Wolff meine Geschichte?
Iris Wolff: Die Unschärfe der
Welt; Klett-Cotta, Stuttgart, 2020 (13. Auflage 2021); ISBN
978-3-608-98326-5; Hardcover; 213 Seiten; € 20.
Die Schriftstellerin Iris Wolff
sagte im September 2012 in einem Interview mit der SIEBENBÜRGISCHE
ZEITUNG: „Ich habe die Romanhandlung in Michelsberg angesiedelt,
weil mir die Nähe zu Hermannstadt wichtig und das Dorf durch seine
Lage einmalig schön ist: Die Basilika ist eines der wenigen aus der
Ansiedlungszeit erhaltenen Bauwerke, man sieht von dem Michelsberg
weit ins Land hinein, dann der Silberbach und der Halbe Stein, ein
Naturmonument aus der Kreidezeit.“ Es handelt sich hier um ihren
ersten Roman, Halber Stein.
Das Internetportal meinbezirk.at
hatte für den 20. November 2015 eine Lesung mit Iris Wolff
aus ihrem zweiten Roman, Leuchtende Schatten, in der
Landesmusikschule Wels Dreiklang-Herminenhof mit folgendem Satz
angekündigt: „Eine Familiengeschichte und die Freundschaft zweier
heranwachsender, ungleicher Mädchen rund um die politischen
Ereignisse der Jahre 1943 und 1944 im siebenbürgischen Hermannstadt
stehen im Zentrum von Iris Wolffs neuem Roman um Freundschaft, Liebe
und einen schnellen, unsanften Abschied von der Kindheit.“
In literaturkritik.de konnte man zu
Wolffs drittem Roman, So tun, als ob es regnet,
im Dezember 2017 lesen: „Wir lesen staunenswert klar beobachtete
oder erdachte Szenen, deren geschickt inszenierte Verbindungen die
Geschichte einer siebenbürgischen Familie entstehen lassen – eine
interkulturelle Geschichte selbstverständlich.“
Als vierter im Bunde der
Wolff-Romane ist Die Unschärfe der Welt im
Corona-Jahr 2020 erschienen. Diesmal bei Klett-Cotta, die vorherigen
Bände wurden vom Salzburger Otto Müller Verlag ediert. Andreas
Platthaus sieht in diesem Roman „eine Metapher für die
Ausreise, aber keine, die als Kritik an Menschen zu verstehen wäre,
die dem Untragbaren nicht länger standhalten wollen, sondern eine,
die jene seelische Last deutlich macht, die auch nach der Befreiung
von der Tyrannei nicht abgeschüttelt werden kann.“ (FAZ,
27.08.2020)
Dreimal Siebenbürgen und das vierte
Mal kommt noch das Banat dazu. Das sind die atmosphärischen und
geografischen Grenzmarken, in denen sich die Romanfiguren der 1977 in
Hermannstadt / Siebenbürgen geborenen und zeitweise in Semlak /
Banat ihre Kindheit verbringenden Iris Wolff
bewegen.
Unscharf heißt noch lange nicht
konturlos. Aber Unschärfe hat viel mit Andeutung zu tun. Mit
Nichtausgesprochenem. Und diese Schwebezustände musst du zuerst mal
zu Papier bringen. Die sich verwebenden Charakterlinien in einem mit
milden Farbtönen gezeichneten Alltag in einem evangelischen
Pfarrhaus am Rande des Banats, ergeben ein literarisches Gemälde,
das man sich mit etwas Fantasie auch eingerahmt, an einer Wand
hängend vorstellen kann. Iris Wolff hat nicht nur Deutsche
Sprache, Literatur- und Religionswissenschaft studiert, sondern auch
Grafik und Malerei … die in ihren Worten so aussieht: „ Es gab
das Grau des Himmels. / Den Fluss und die Weiden. / Die weite Ebene
und die Einsamkeit. / Es gab den Rand und die Mitte. / Das Ja und das
Nein. / Die Ungewissheit.“ Das ist unverkennbar von Prosa
ummantelte Lyrik. Schön!
Vielen von ihnen ging es wie Hannes,
der vor dem Krankenhaus wartete: „Besuch war nicht erlaubt, nicht
einmal zur Geburt, nicht einmal dem eigenen Mann. Trotz der ersten
Anzeichen des Frühlings war es kalt, an manchen Stellen lag noch
Schnee. Der Winter hielt sich daran fest, uneinsichtig,
widerspenstig. […] Die Schwestern versammelten sich vor dem
Fenster. / >Da steht ein Mann auf einem Autodach.< / Florentine
lächelte. / >Sagt ihm, es ist ein Junge und er hat kleine
Ohren.<“
Herrgott nochmal! Von wo kennt Iris
Wolff meine Geschichte? Genau so. Fast genau so. Nur ohne
Autodach. Aber mit einem widerspenstigen Pförtner.
Zăpadă heißt
das erste Kapitel, Echo
das zweite, Leviathan
das dritte, ihm folgt Windwanderer,
dann Makromolekular
und als sechstes Jupiter,
gefolgt als letztes von Prestigio.
Es passiert einiges in diesen Kapiteln, ohne allerdings in uferlose
Erzählstränge mit vielen Spannungsbögen auszuarten. Die Handlung,
nicht immer linear, bleibt auch nicht auf
einen Pfarrhaushalt und das ihn umgebende Dorf beschränkt. Nein. Es
geht auch hinaus in die weite Welt. Und das alles in einer poetisch
schön ausgefärbten Sprache, der auch die eine oder andere
Lebensweisheit nicht fehlt: „Etwas kann so oft und eindrücklich
erzählt werden, dass man meint, sich selbst daran zu erinnern.“
Ja, dieser Maxime
Iris Wolffs
schließe ich mich als Leser gerne an und
empfehle dieses Buch wärmstens weiter.
Anton Potche
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