Ana Blandiana: Geschlossene
Kirchen – Biserici închise / Gedichte Deutsch &
Rumänisch; POP-Verlag, Ludwigsburg,
2018; ISBN: 978-3-86356-185-7; 209 Seiten, € [D] 19,90, € [A]
20,50.
Schreibt man über einen Roman, eine
Erzählung oder ein Theaterstück, hat man einen Plot, also einen
Erzählstrang oder auch mehrere Stränge. Das fehlt im Gedicht,
dieses Gerüst, an dem man sich hocharbeiten kann, zu einem Dach oder
gar einer Turm- oder Kirchenspitze.
Jetzt habe ich das letzte Gedicht
dieses Lyrikbuches der Geschlossene[n] Kirchen hinter
mir und schon versuche ich, mich zu erinnern, wie es losging mit den
Versen. Nichts. Also heißt es, aufschlagen.
Es geht erst mal um Räume.
Um sakrale Räume. Um das, was in ihnen und um sie herum
existiert und passiert. Und es ist, weiß Gott nicht alles heilig, ob
diesseits oder im „Change-Office im jenseitigen Leben“. Alles
passiert oder existiert zweimal in diesem Buch: auf der linken Seite
rumänisch und auf der rechten deutsch. Für die linke Seite ist
allein Ana Blandiana verantwortlich, während die rechten
Seiten je mit einer Initiale versehen sind: [H. S.], [M. H.]
und [K. K.]. Sie stehen für Horst Samson, Maria
Herlo und Katharina Kilzer. Sie sind nicht lang, diese
Raum-Gedichte. Und sie – oder die meisten von ihnen - benötigen
sehenden Auges weniger Platz als ihre deutschen Übersetzungen. So
sind Sprachen. Man kann sie sogar nach ihrem Flächenanspruch auf
Buchseiten voneinander unterscheiden. Das funktioniert bei Gedichten
besonders gut. Transparență –
Transparenz heißt das letzte der Raumgedichte.
Übereinander geschichtete Flächen ergeben raumfüllende,
geschlossene, kompakte geometrische Figuren. Und Landschaften. Und
Heimat. So kann man Ana Blandiana verstehen: „Ce minunate
priveliști ascunse / Simte
nevoia să îmi arate țărâna, / În
timp ce mă privește voluptuos /
Coborând.” Und so Katharina
Kilzer: „Welch wunderbar verborgene Landschaft /
mir dieses Land offenbart, / während
es mich wollüstig betrachtet / aus der
Versenkung.“
Kapitel 2: Zeiten. Wir lesen
Gedichte wie Clepsidră – Zeituhr,
Vânătoare în timp – Jagd auf
Zeit, O clepsidră fără nisip –
Eine Sanduhr ohne Sand u. v. a. Die Zeit, sie ist
messbar, aber nicht aufhaltbar oder sogar umkehrbar. Und das führt
oft dazu, dass man es nachher besser weiß. Auch bei
Ana Blandiana und Horst Samson: „Doamne,
ce risipă! / Cum aruncam cu secundele, cu minutele, /
Cu orele, cu zilele, cu săptămânile, cu
anii! - Gott, was für eine Verschwendung! / Wie ich mit
Sekunden um mich warf, mit Minuten, / mit Stunden, Tagen, Wochen,
Jahren!” Geht es uns nicht allen so? Wenn
uns die Zeit zum Nachdenken über die Zeit überhaupt gegeben ist.
Die Sanduhr kommt in einigen Gedichten vor. Die Sichtbarmachung der
Zeit in ihrem unwiderstehlichen Lauf. Ach, könnte man doch … Bei
so viel Nachdenken und Dichten wird man auch mit der Sinnhaftigkeit
seines (dieses) Tuns konfrontiert: „[…] was für Sinn hat es,
mich fortwährend zu gebären, / mich immer wieder aufzuschreiben /
und zu lesen / aus den stets gleichen Silben?“ (Von vorne - [H. S.]). Kann ein wahrhafter
Dichter solchen Zweifeln entgehen? Wohl kaum.
Es ist wahrhaftige Poesie, was Ana
Blandiana geschaffen hat. Auch wenn Vers und Rhythmus fast zur
Gänze fehlen und man sich nicht scheuen sollte, das eine oder andere
Gedicht öfter zu lesen. Irgendwann kommt man der Idee auf die Spur …
oder reimt sich seine eigene zusammen. Das gehört zum Spezifikum der
Lyrik: die Freiheit des Lesers. In Räumen
und Zeiten entwickeln sich die Erkenntnisse. Und
die können wahrlich wundersame Formen annehmen wie etwa in der
Kalendergeschichte – Povestea din calendar, diesem
Genesisgespräch in vollkommen lyrischer Schönheit: „Ce-aș
fi putut hotărî / Înotând în lichidul
amniotic, / […] - Was hätte ich letztendlich tun können, /
Während ich im Fruchtwasser schwamm […].“ [M. H.].
Diese Blumenlese mit dem
bedrückenden Titel Geschlossene Kirchen – Biserici închise
– mir fällt dabei immer wieder die angeblich verschlossene
orthodoxe Kathedrale während des antikommunistischen Aufstandes in
Temeswar ( Weihnachtszeit 1989) ein – wurde von Katharina
Kilzer, eine der treuesten Begleiterinnen Ana Blandianas
im deutschen Sprachraum, zusammengestellt. Die 85 Gedichte sind
Quellen aus den Jahren 1966 bis 1921 entnommen, ein lyrisches
Lebenswerk in Miniatur, könnte man zu diesem graphisch sehr
ansprechend gestalteten Buch aus dem Ludwigsburger POP-Verlag sagen.
Es enthält auch zwei Zeichnungen von Elisabeth Ochsenfeld und
zwei Handschriften Ana Blandianas.
Auf dem Rückeinband des Buches ist
das berühmte Samistat-Gedicht Eu cred – Ich glaube [H. S.] abgedruckt – weiß auf schwarz.
Dieser Band zeigt es: Auch Lyrik kann eine angenehme und erbauliche
Lektüre sein. Nicht von ungefähr ist Ana Blandiana (*1942)
heute „neben Mircea Cărtărescu
die berühmteste rumänische
Literaturstimme im Ausland“, schreibt Răzvan
Voncu in
Rumäniens berühmtester Literaturzeitschrift ROMÂNIA
LITERARĂ, Nr. 12 vom 25. März 2022
anlässlich des 80. Geburtstages der Dichterin.
Anton Potche
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