Montag, 13. Januar 2025

Ein lyrisches Lebenswerk in Miniatur

Ana Blandiana: Geschlossene Kirchen – Biserici închise / Gedichte Deutsch & Rumänisch; POP-Verlag, Ludwigsburg, 2018; ISBN: 978-3-86356-185-7; 209 Seiten, € [D] 19,90, € [A] 20,50.

Schreibt man über einen Roman, eine Erzählung oder ein Theaterstück, hat man einen Plot, also einen Erzählstrang oder auch mehrere Stränge. Das fehlt im Gedicht, dieses Gerüst, an dem man sich hocharbeiten kann, zu einem Dach oder gar einer Turm- oder Kirchenspitze.

Jetzt habe ich das letzte Gedicht dieses Lyrikbuches der Geschlossene[n] Kirchen hinter mir und schon versuche ich, mich zu erinnern, wie es losging mit den Versen. Nichts. Also heißt es, aufschlagen.

Es geht erst mal um Räume. Um sakrale Räume. Um das, was in ihnen und um sie herum existiert und passiert. Und es ist, weiß Gott nicht alles heilig, ob diesseits oder im „Change-Office im jenseitigen Leben“. Alles passiert oder existiert zweimal in diesem Buch: auf der linken Seite rumänisch und auf der rechten deutsch. Für die linke Seite ist allein Ana Blandiana verantwortlich, während die rechten Seiten je mit einer Initiale versehen sind: [H. S.], [M. H.] und [K. K.]. Sie stehen für Horst Samson, Maria Herlo und Katharina Kilzer. Sie sind nicht lang, diese Raum-Gedichte. Und sie – oder die meisten von ihnen - benötigen sehenden Auges weniger Platz als ihre deutschen Übersetzungen. So sind Sprachen. Man kann sie sogar nach ihrem Flächenanspruch auf Buchseiten voneinander unterscheiden. Das funktioniert bei Gedichten besonders gut. Transparență – Transparenz heißt das letzte der Raumgedichte. Übereinander geschichtete Flächen ergeben raumfüllende, geschlossene, kompakte geometrische Figuren. Und Landschaften. Und Heimat. So kann man Ana Blandiana verstehen: „Ce minunate priveliști ascunse / Simte nevoia să îmi arate țărâna, / În timp ce mă privește voluptuos / Coborând.” Und so Katharina Kilzer: „Welch wunderbar verborgene Landschaft / mir dieses Land offenbart, / während es mich wollüstig betrachtet / aus der Versenkung.“

Kapitel 2: Zeiten. Wir lesen Gedichte wie Clepsidră – Zeituhr, Vânătoare în timp – Jagd auf Zeit, O clepsidră fără nisip – Eine Sanduhr ohne Sand u. v. a. Die Zeit, sie ist messbar, aber nicht aufhaltbar oder sogar umkehrbar. Und das führt oft dazu, dass man es nachher besser weiß. Auch bei Ana Blandiana und Horst Samson: „Doamne, ce risipă! / Cum aruncam cu secundele, cu minutele, / Cu orele, cu zilele, cu săptămânile, cu anii! - Gott, was für eine Verschwendung! / Wie ich mit Sekunden um mich warf, mit Minuten, / mit Stunden, Tagen, Wochen, Jahren!Geht es uns nicht allen so? Wenn uns die Zeit zum Nachdenken über die Zeit überhaupt gegeben ist. Die Sanduhr kommt in einigen Gedichten vor. Die Sichtbarmachung der Zeit in ihrem unwiderstehlichen Lauf. Ach, könnte man doch … Bei so viel Nachdenken und Dichten wird man auch mit der Sinnhaftigkeit seines (dieses) Tuns konfrontiert: „[…] was für Sinn hat es, mich fortwährend zu gebären, / mich immer wieder aufzuschreiben / und zu lesen / aus den stets gleichen Silben?“ (Von vorne - [H. S.]). Kann ein wahrhafter Dichter solchen Zweifeln entgehen? Wohl kaum.

Es ist wahrhaftige Poesie, was Ana Blandiana geschaffen hat. Auch wenn Vers und Rhythmus fast zur Gänze fehlen und man sich nicht scheuen sollte, das eine oder andere Gedicht öfter zu lesen. Irgendwann kommt man der Idee auf die Spur … oder reimt sich seine eigene zusammen. Das gehört zum Spezifikum der Lyrik: die Freiheit des Lesers. In Räumen und Zeiten entwickeln sich die Erkenntnisse. Und die können wahrlich wundersame Formen annehmen wie etwa in der Kalendergeschichte – Povestea din calendar, diesem Genesisgespräch in vollkommen lyrischer Schönheit: „Ce-aș fi putut hotărî / Înotând în lichidul amniotic, / […] - Was hätte ich letztendlich tun können, / Während ich im Fruchtwasser schwamm […].“ [M. H.].

Diese Blumenlese mit dem bedrückenden Titel Geschlossene Kirchen – Biserici închisemir fällt dabei immer wieder die angeblich verschlossene orthodoxe Kathedrale während des antikommunistischen Aufstandes in Temeswar ( Weihnachtszeit 1989) ein – wurde von Katharina Kilzer, eine der treuesten Begleiterinnen Ana Blandianas im deutschen Sprachraum, zusammengestellt. Die 85 Gedichte sind Quellen aus den Jahren 1966 bis 1921 entnommen, ein lyrisches Lebenswerk in Miniatur, könnte man zu diesem graphisch sehr ansprechend gestalteten Buch aus dem Ludwigsburger POP-Verlag sagen. Es enthält auch zwei Zeichnungen von Elisabeth Ochsenfeld und zwei Handschriften Ana Blandianas.

Auf dem Rückeinband des Buches ist das berühmte Samistat-Gedicht Eu cred – Ich glaube [H. S.] abgedruckt – weiß auf schwarz. Dieser Band zeigt es: Auch Lyrik kann eine angenehme und erbauliche Lektüre sein. Nicht von ungefähr ist Ana Blandiana (*1942) heute „neben Mircea Cărtărescu die berühmteste rumänische Literaturstimme im Ausland“, schreibt Răzvan Voncu in Rumäniens berühmtester Literaturzeitschrift ROMÂNIA LITERARĂ, Nr. 12 vom 25. März 2022 anlässlich des 80. Geburtstages der Dichterin. 

Anton Potche

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen