Horst Samson: Heimat – gerettete Zunge – Visionen und Fiktionen deutschsprachiger Autoren
aus Rumänien, POP-Verlag, Ludwigsburg, 2013; 373 Seiten; ISBN:
978-3-86356-051-5; € [D] 15,00; € [AT] 25,00; SFr [CH] 35,00.
Eine Anthologie, ein Lesebuch …
nein: ein Tagungsbuch. Genau das liegt vor mir. Ausgelesen. Um was es
sich eigentlich handelt, erläutert Prof. Dr. Wolfgang Schlott,
Präsident des Exil-P.E.N. (Stand 2013), in einem Vorwort: „Die vom
16. - 18. November 2012 in die Tagungsstätte „Heiligenhof“ (Bad
Kissingen) eingeladenen Literaten und Literaturwissenschaftler
sollten […] unter dem Thema Heimat – gerettete Zunge. Die
rumäniendeutsche Literatur in der Bundesrepublik
Deutschland […] aus ihren Texten lesen und sich anschließend
den Fragen der Moderatoren und des Publikums stellen.“ Das haben
sie dann auch getan und dank eines finanzpotenten Unterstützers, der
Bundesbeauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, konnten
die gehaltenen Referate und Lesungen einem größeren Leserkreis
zugänglich gemacht werden. Als zweiter Förderer dieses Buchprojekts
zeichnet der Internationale Exil-P.E.N.-Sektion deutschsprachige
Länder. Und das bekommen interessierte Leser geboten (nicht in der
Vortragsreihenfolge).

Erst einmal zwei Prosatexte von Hans
Bergel (*1925), dem Nestor der rumäniendeutschen Literatur: Der
Barackentrottel und
Der Major und die Mitternachtsglocke. Wer
Hans Bergels
Biografie und Werk
kennt, wird sich nicht über die Gefängnisthematik
dieser Texte wundern: Sie sind Teil von Bergels
Journalliteratur und klingen teilweise gelassen, sogar humorvoll,
dann stark kontrastierend apokalyptisch und nicht zuletzt auch
deutlich anklagend: „Über jenen Prozess der deutschen
Schriftstellergruppe – procesul lotului scriitorilor germani
– ist während der Jahrzehnte
seither von geradezu unfassbar oberflächlich recherchierenden
bundesdeutschen Journalisten und nicht minder ahnungslosen wie
geschwätzigen Landsleuten
so viel Unsinn gesagt, geschrieben und gemauschelt worden, dass jeder
Gedanke
an Richtigstellungen
reizlos erscheint.“
Es
folgt ein Auszug aus Johann
Lippets (*1951) Roman
Bruchstücke aus erster und zweiter Hand
(POP Verlag, 2012). Wir sind in dem Heidedorf Wiseschdia. Die Stute
heißt Doina, die Kuh reagiert auf den Zuruf Rosa, der Bauer ist
Alois und die Bäuerin Florica, ein Mähdrescher ist eine Kombine und
die ehemalige Landwirtschaftliche Genossenschaft ist als Ferma in
Erinnerung geblieben. Die Zeit der Deutschen in Wiseschdia ist
endgültig vorbei. Aber die Erinnerung an sie, gepaart mit den
wenigen Überbleibseln hat einen Hauch von Romantik. Nichts
Außergewöhnliches bei Lippet.
Bei
Gerhard Ortinau
(*1953) heißt es dann, die sieben Zwetschgen zusammennehmen. Der
Text ist mit Wehner auf Öland – Eine Verkleinerung
überschrieben. Seine Form
ist eine Kombination aus Prosa und Theater. Sein Thema das
Abhandenkommen der Kontinuität im Denken und das verlieren von
Gestalten aus dem unmittelbaren Umfeld. Wahnsinn, Grauen, das
Zerfallen dessen, was man einmal war oder was davon noch
übriggeblieben ist, in seine Teile. Der Protagonist dieser
Höllenfahrt ist kein geringerer als Herbert
Wehner (1906 - 1990),
einer der markantesten
deutschen Politiker nach dem 2. Weltkrieg. Endlich ein
nichtrumäniendeutsches Thema. Das
Ganze liest und fühlt sich so an: „Kassandra, nein Greta. Ich
will, dass die Greta kommt und das Süße zum Nachtisch und meine
Pfeife bringt. Jetzt laut. Seit vierzig Jahren habe ich keinen Verrat
begangen an meiner Tabakmarke REVELATION. Nur im Bett, im Bundestag
und im Zuchthaus habe ich nicht geraucht.“
Helmut
Seiler (*1953) ist mit
einem stark selbstbezogenen und sehr kurzen Text vertreten. Mein
Bleistift hat nach seinem letzten Punkt fortgeschrieben: Man kann
oft mit seinen eigenen Träumen wenig anfangen, geschweige denn mit
denen Anderer.
Balthasar
Waitz (*1950) hat drei
Prosastücke aus seinem Band Krähensommer und andere
Geschichten aus dem
Hinterland (Cosmopolitan Art
Verlag, Temeswar, 2011) für diese Blumenlese bereitgestellt. Mit
Unsere schwäbische Blasmusik
ist die eine Erzählung betitelt. Als Jahrmarkter muss ich mich bei
dieser Geschichte fragen, was besser ist: Musikantenstreit oder
Musikantensucht.
Der
Lyrikteil beginnt mit Gedichten von Ilse
Hehn (*1943). Auch bei
dieser Poetin gilt, dass Menschen, andere Menschen, mit Gedichten oft
wenig anfangen können. Der/die Dichter/in hat sie manchmal zu sehr
nur für sich geschrieben.
Und
trotzdem fällt es nicht immer schwer, ein Sonett zu lieben, schon
wegen seinem Rhythmus und Reim. Als Beispiel könnte man Junger
Mond über Saalbach von Franz
Heinz (*1929) anführen –
auch wenn oder gerade weil
die klassischen Sonettformen außer
Kraft gesetzt sind. Statt Quartette und Terzette serviert Franz Heinz
uns drei Fünfzeiler.
Klaus
Hensel (*1954) beweist
durch seinen Stil, dass ein kluges Mäandern zwischen Vers
und Prosasatz durchaus seinen Reiz haben kann. Und „Wolfgangs
Küche“ kann überall sein, ist wahrscheinlich sogar überall.
Franz
Hodjak (*1944) widmet
seine Gedichte (zumindest einige der hier abgedruckten) Anderen. Das
erleichtert es wiederum ganz Anderen, den Inhalt oder die Botschaft
dieser Lyrikprodukte besser zu verstehen.
Mit
Hyperlinks, einem
epischen Gedicht, wird Johann
Lippet auch als Dichter
vorgestellt. Und man kann lesen: „Hund und Katzen waren vergiftet,
ihnen Gräber errichtet / am Gartenzaun, sie sollten nicht dienen
fremden Herren.“ Wahnsinn! Wenn Auswanderungsagonie den Verstand
verdunkelt.
Es ist immer schwierig, sich in
Allgemeinformulierungen über das Werk eines Dichters oder nur (auch
sehr) kleine Teile davon zu äußern. Daher tut man gut daran, sich
ein Gedicht vorzunehmen. Etwa Usedom im Regen von Horst
Samson (*1954), eins von 13 Gedichten dieses Lyrikers in dieser
Blumenlese. So etwas generiert doch Gänsehautgefühle: „Nachts
gehen wir durchs Meer, / Die Wellen / Am Schienbein, Hand in Hand /
Unsere weißen Körper / Leuchten im Mondlicht wie / Taufkerzen.“
Wenn ein Gedicht in deinem Kopf den Mond aufgehen lässt, hat es
seinen heiligen Zweck erfüllt. Usedom wird hinter meiner Stirn
Costinești ... und noch viel, viel mehr.
Einer
der rumäniendeutschen Schriftsteller mit
größerer Rezeption im deutschen (literarischen) Sprachraum ist
Dieter Schlesak (1934 – 2019).
Es ist einfach nur logisch, dass er aus dieser Anthologie, die noch
zu seiner Lebenszeit erschienen ist, nicht fehlen darf. Bis auf den
gedichteten Nachruf auf Rolf Bossert (1952 - 1986) lernen wir
hier eine stark introvertierte Lyrik kennen. Schwere, sehr schwere
Kost. Aber die Portion ist genießbar und durchaus nach der gängigen
Rezeptur deutscher zeitgenössischer Lyrik zubereitet. Auch das ist
nur eines der vielen Beispiele aus dieser Anthologie, die belegen,
dass die rumäniendeutsche Literatur (zumindest die ausgewanderte)
eine lebensfroh sprudelnde Quelle in der gesamtdeutschen
Literaturlandschaft ist.
Helmut Seiler schließt die
Dichterreihe. Mit dem Gedicht Neulich, beim Briefschreiben
zeigt der Autor, dass (und wie) die Poesie in der Blogosphäre
angekommen ist. Und dann hat er noch Für Évi das Gedicht
Schiffchen geschrieben. Ein so schönes Liebesgedicht würde
ich meiner Evi auch gerne schreiben können. Leider muss man dazu
Dichter sein.
Als einsamer Dramaturg muss sich
Frieder Schuller (*1942) zwischen so vielen Dichtern,
Essayisten und Prosatoren fühlen. Ossis Stein oder Der
werfe das erste Buch nennt er sein Theaterstück. Poesie &
Theater ist eigentlich eine glückliche Fügung, nicht nur bei den
Klassikern. Auch Frieder Schuller versteht etwas davon. Und
wer aus jener siebenbürgischen Nachkriegszeit kommt, kann vielleicht
sogar erraten, wer in diesem Stück für den Autor Modell stand.
Die Essayisten haben in diesem Buch
das letzte Wort. Als Erster beschäftigt sich Ingmar Brantsch
(1940 – 2013) mit Chancen und Schwierigkeiten beim Versuch, die
deutschsprachige Literatur in und aus Rumänien im interkulturellen
Dialog mit Norwegen, Deutschland, Rumänien und Österreich zu
erfassen. Dabei hat er den Sammelband Ost-West-Identitäten
und Perspektiven,
Deutschsprachige Literatur in und aus Rumänien im interkulturellen
Dialog (Verlag IKGS,
München, 2012) rezensiert. Das
Buch ist das Resultat eines Symposiums in der sudetendeutschen
Begegnungsstätte „Der Heiligenhof / Akademie Mitteleuropa“ in
Bad Kissingen, also ein ähnliches Produkt wie Heimat
– gerettete Zunge.
Brantsch
macht auch in diesem Material aus seiner Abneigung gegen die
Aktionsgruppe Banat kein Hehl, wenn er schreibt: „Ein Jahr später,
1972, trat die vulgär-marxistische Aktionsgruppe Banat ins
ideologische Rampenlicht der verblüfften Öffentlichkeit mit dem
vulgär-marxistischen Terribilismus, Ceaușescu
sogar noch links
überholen zu wollen, indem von nun an jede literarische Äußerung
auch wieder marxistisch sein sollte.“
Walter
Engel (*1942) hat
seinen Beitrag streng wissenschaftlich gegliedert in Vorbemerkung,
Biographisches zu den
Autoren,
Erzählperspektiven,
Orte und Gestalten des
Geschehens und Von
der Sprachvielfalt. Es
ist ihm so gelungen – auch mit langen Textausschnitten -, die
Innenwelt und Außenwelt
des Banats im Spiegel neuerer Texte von Balthasar Waitz und Esther
Kinsky darzustellen.
Entstanden sind essayistische Stimmungsbilder, die auf die Werke
zweier Autoren mit grundverschiedenen Beziehungen zum Banat neugierig
machen. Balthasar Waitz
(*1950)
ist nach der Auswanderung der Banater Schwaben im Banat geblieben,
während die Schriftstellerin Esther
Kinsky (*1956) eine
geborene Rheinländerin ist. Sie hat den Roman Banatsko
(Verlag Matthes & Seitz, Berlin, 2011) geschrieben.
Eines
im wahrsten Sinne
des Wortes großen Buches (24,6 x 18 cm, 549 Seiten, 1,5 kg, mit
vielen Fotos) hat sich Franz
Heinz angenommen: Die
deutsche Seele von
Thea Dorn
(*1970) und Richard
Wagner (*1952). Das
2011 im Knaus Verlag erschienene Buch wurde im deutschen Feuilleton
positiv besprochen. Der Text
von Franz
Heinz ist als
Rezension für eine Kulturseite zu umfangreich. Als Vortrag und
entsprechende Veröffentlichung in Buchformat hingegen ist er schon
darum geeignet, weil er der eigenen Gefühlslage bei und nach der
Lektüre ausreichend Platz einräumen kann. Ein
Dichter-Schriftsteller-Essayist-Journalist wie Franz
Heinz versteht sich
nun mal auf das Schreiben
von Rezensionsessays.
Peter
Motzan (*1946) ist der
Kenner der rumäniendeutschen Literatur schlechthin. Er stellt im
Titel seines Essays die Frage: Eine
Erfolgs- und/oder eine Endzeitgeschichte? - Zur Präsenz
(ex-)rumäniendeutscher Autoren im Literaturbetrieb der
Bundesrepublik Deutschland. Also
ich fand sein Fazit schon ernüchternd: „Inzwischen ist der
‚Exotenbonus‘ längst verblasst, Schriftsteller, denen die
Chance des Einstiegs großzügig geboten wurde, sind in Brotberufe
abgewandert oder in die Anonymität zurückgefallen. Die Verleihung
des Nobelpreises für Literatur an Herta Müller im Jahre 2009 hat
einen erneuten Boom ex-rumäniendeutscher Autoren nicht hervorgerufen
– sieht man von der kurzzeitigen und medienwirksamen inszenierten
Hinwendung zu der 1972 in
Temeswar gegründeten Aktionsgruppe
Banat ab, einer
Solidargemeinschaft von oppositionellen jungen Autoren, die 1975 von
der Securitate zerschlagen wurde.“
Wie
entsteht ein Gedicht? Auf vielfältige Art und Weise. Horst
Samson (*1954)
beschreibt in einem ergreifenden Essay, wie er das seinem Vater
gewidmete Gedicht Pünktlicher
Lebenslauf verfasst
hat. Worin liegt
eigentlich die Kunst des Dichtens? Im Unerklärlichen.
Wahrscheinlich. Das bei Samson
so klingt: „Es hört nicht auf, nicht das Gedicht und nicht die
Geschichte. Seit Wochen trage ich beides in meinem Kopf herum.
Darüber soll ich schreiben, will ich schreiben, werde ich schreiben.
Aber erklären kann ich nichts, nicht das Gedicht, nicht die
Geschichte, schon gar nicht wie das eine , wie das andere entstanden
ist.“
Und
wieder ein Fragetitel: Wer
liest heutzutage „rumäniendeutsche“ Literatur? Zum
potentiellen „Kundenkreis“ zählt die Autorin, Olivia
Spiridon (*1971), als
Erstes die „rumäniendeutschen Leser […], die allerdings eine
schwer einschätzbare Gruppe darstellen. [...] Die Antwort auf
die Frage nach den Lesern rumäniendeutscher Schriftsteller bleibt
daher nach wie vor spannend.“ Meine Erfahrung
als Ergänzung dieser Feststellung: Personen der rumäniendeutschen
Erlebnisgeneration
aus meinem Umfeld lesen nur die Todesanzeigen in der BANATER POST …
und ihre Kinder lesen Übersetzungen aus der amerikanischen Literatur
… wenn möglich schon mit einem halben Dutzend Toten auf den ersten
zehn
Seiten.
Als
letzter Textbeitrag dieser Anthologie sind noch zwei knappe Vitas
abgedruckt. Renate
Windisch betitelt
ihren Text mit Zwei
Generationen, ein Tisch – Literatur jenseits der Vaterländer.
Gemeint sind damit
Siebenbürgen und das Banat … und die ihnen entstammenden Hans
Bergel und Horst
Samson.
Es
folgt das Programm der Tagung, die diesem Buch zugrunde liegt und ein
reicher Fototeil. Mit den biobibliographischen Angaben zu den Autoren
(ohne Angaben zu Peter
Motzan) und dem
Inhaltsverzeichnis ist das Buch abgeschlossen. Für den einen oder
anderen Bücherschrank könnte es eine Bereicherung sein. Auf jeden
fall hat der POP-Verlag hier eine gute Arbeit geleistet.
Anton Potche